Zur diesjährigen, 69. Berlinale, titelte der Berliner Tagesspiegel: „Das Festival der Frauen“. Bei solchen Ankündigungen sollte man natürlich skeptisch sein, schließlich ist Frauen-Empowerment gerade so etwas wie ein Trend und nicht überall, wo Geschlechtergerechtigkeit draufsteht, ist auch Geschlechtergerechtigkeit drin. Wenige Tage, bevor am 17. Februar feierlich der Goldene Bär verliehen wird, lässt sich aber sagen: Stimmt schon irgendwie, das mit dem „Festival der Frauen“.
Ohne Quoten geht es nicht
Das fängt schon beim feministischen Motto an: „Das Private ist politisch“ hat sich die Berlinale 2019 auf die Fahnen geschrieben. Im Interview erklärte der scheidende Berlinale-Chef Dieter Kosslick: „Eigentlich müsste man sagen, das Private ist noch politischer.“ Politisch(er) sein möchte die Berlinale also, und das zeigt sich natürlich am deutlichsten in der Auswahl der Filme: Immerhin stammen sieben der 17 Wettbewerbsfilme von Regisseurinnen (darunter die Deutschen Angela Schanelec und Nora Fingscheidt), was einer Quote von 41 Prozent entspricht – im Vorjahr waren es nur 21 Prozent. Auf 400 Filme insgesamt (darunter Retrospektiven und historische Sonderprogramme) kommen bei der diesjährigen Berlinale 191 Regisseurinnen. Zahlen, die sich sehen lassen können, vor allem im Vergleich zu den großen Festivals in Cannes und Venedig. Mit der französischen Schauspielerin Juliette Binoche hat die Berlinale außerdem eine Jury-Präsidentin, die keine klaren Worten scheut („Die #MeToo-Debatte war notwendig“).
Darüber hinaus hat Noch-Festivalchef Dieter Kosslick während des laufenden Festivals den Gender Party Pledge „5050×2020“ unterzeichnet. Die Berlinale verpflichtet sich damit, bis 2020 die Leitungen und Auswahlgremien paritätisch zu besetzen sowie Zahlen zur Geschlechterverteilung bei Filmeinreichungen und -auswahl zu veröffentlichen. Eine ausführliche Gender-Evaluation für dieses Jahr ist bereits erschienen. Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk erklärte Kosslick: „Ich finde eine Quote blöd. Aber um dahin zu kommen, um dieses Ziel zu erreichen, braucht man offensichtlich eine Quote, weil es nicht freiwillig geht.“ Kosslicks Nachfolge ist bereits paritätisch besetzt: Im Juni 2019 übernimmt das Duo Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek.
Frauen schlagen sich gut
Doch abseits von Zahlen: Wie ist es denn nun, dieses „Festival der Frauen“? Abgesehen vom Eröffnungsfilm The Kindness of Strangers der dänischen Regisseurin Lone Scherfig, der nahezu einhellig verrissen wurde, schlagen sich die Frauen im Berlinale-Wettbewerb sehr gut. Nora Fingscheidts Systemsprenger löste Begeisterung aus – der Film über ein verhaltensauffälliges Kind brachte Fingscheidt, die bisher nur Kurz- und Dokumentarfilme gedreht hat, Respekt ein. Marie Kreutzers Der Boden unter den Füßen sorgte für positive Toni Erdmann-Assoziationen, weil er ebenfalls im Berater*innen-Milieu angesiedelt ist. Als Kritiker*innen-Liebling entpuppte sich God Exists, Her Name is Petrunya von Teona Strugar Mitevska: Der Film erzählt mit viel Humor und Sympathie für seine Protagonistin die Geschichte einer Emanzipation. Regie-Veteranin Agnieszka Holland, bereits mehrfach Gast auf der Berlinale, überzeugte mit dem Polit-Historienfilm Mr. Jones.
Und vor der Kamera? Gibt es jede Menge umwerfende und spannende Frauenfiguren zu entdecken, ob im Wettbewerb oder in einer der zahlreichen Nebenreihen. Komplizierte, anstrengende, sanftmütige, rebellische, eifersüchtige und mutige Frauen. Da ist die bereits erwähnte Petrunya, die weniger göttinnengleich ist als vielmehr eine Loserin. Da sind Jo und Mara, die in Fourteen eine schwierige und oftmals einseitige Freund*innenschaft leben. Da sind die Schwestern Reyhan, Nurhan und Havva aus A Tale of Three Sisters, die glaubten, ihrem anatolischen Dorf entkommen zu sein – und nun alle wieder dorthin zurückkehren. Da ist die serbische Schneiderin Ana in Stitches, die fest davon überzeugt ist, dass man ihr ihren kleinen Sohn nach der Geburt weggenommen und verkauft hat. Da ist die stoische Hirtin in Öndög, die autark lebt und nichts braucht, schon gar nicht einen Mann. Da sind die Südafrikanerinnen Natalie und Poppie, die im Roadmovie Flatland vor der Polizistin Beauty Cuba fliehen.
Auch zahlreiche Dokumentationen beschäftigen sich mit erstaunlichen Frauen: Shooting the Mafia erinnert an die italienische Fotografin Letizia Battaglia, die in den 1970ern begann, brutale Mafia-Morde zu dokumentieren; A dog called money folgt der britischen Musikerin PJ Harvey auf einer Inspirations-Reise; What she said setzt der einflussreichen amerikanischen Filmkritikerin Pauline Kael ein Denkmal. Vielschichtige Frauen hinter und vor der Kamera vereint die diesjährige Retrospektive, die Werken deutscher Regisseurinnen in der Zeit von 1968 bis 1999 gewidmet ist. Unter dem Motto „Selbstbestimmt – Perspektiven von Filmemacherinnen“ wird ein Bogen gespannt von May Spils‘ Zur Sache, Schätzchen (1968), über Nina Grosses Der gläserne Himmel (1987), bis hin zu Martina Döckers und Crescentia Dünßers Mit Haut und Haar (1999).
Goldener Bär für eine Frau?
Die Berlinale, die letzte unter Dieter Kosslick, gibt sich also Mühe. Und wer weiß: Vielleicht geht am 17. Februar ja sogar eine Frau mit dem Goldenen Bären für den Besten Film nach Hause. Sie wäre die siebte seit 1956, seit die Berlinale zum ersten Mal stattfand. Zum Vergleich: In Cannes gewann bisher nur eine einzige Frau (Jane Campion 1993 für Das Piano) die Goldene Palme. Wenn es um Diversität und Geschlechtergerechtigkeit geht, ist dieses Berliner „Festival der Frauen“ also auf gar keinem schlechten Weg.