Eine Theaterbühne. Ein leerer Stuhl. Auf der Stuhllehne eine Aufschrift: „Agnès V.“. Und dann ist sie auch schon da, Agnès Varda, und nimmt Platz vor ihrem Publikum. Zwei Stunden lang gibt die Cineastin und Wegbereiterin der Nouvelle Vague Einblicke in ihr Schaffen, spricht über die Entstehung ihres Werks, teilt Anekdoten aus ihrer langen Karriere. Varda par Agnès, eine Art filmisches Selbstporträt, das auf der diesjährigen Berlinale außer Konkurrenz im Wettbewerb läuft, könnte Vardas letzter Film sein – immerhin wird die kleine Dame mit der ikonischen zweifarbigen Pilzfrisur bald 91 Jahre alt. Doch wer sieht, wie sie da sitzt, wie sie mit klarer Stimme spricht, dabei oft ein spitzbübisches Lächeln im Gesicht, der mag das gar nicht glauben. Ihre Sehfähigkeit nehme ab, sagt Varda. Doch an ihrem Blick auf die Welt, auf ihre Neugier, das zeigt Varda par Agnès, ändert das nichts.
Mit einfachsten Mitteln und viel Improvisation
Agnès Varda wird 1928 als Arlette Varda in Belgien geboren, mit 18 Namen ändert sie ihren Namen offiziell in Agnès um. Sie wächst in Südfrankreich auf und studiert später Literatur, Psychologie, Kunstgeschichte und Philosophie an der Sorbonne und der École du Louvre in Paris. Der Umzug in die französische Hauptstadt, diese „graue, unmenschliche, traurige Stadt“ ist für Varda ein Schock. Die Seminare an der Sorbonne findet sie öde und langweilig, mit ihren Kommiliton*innen kommt sie nicht klar. Varda braucht etwas anderes, Stimulation, Kreativität, Leben. Also absolviert sie im Anschluss an ihr Studium eine Ausbildung zur Fotografin, arbeitet als Theaterfotografin und Fotoreporterin. Über die Fotografie kommt sie zum Film – ohne vorher ein besonders großer Kino-Fan gewesen zu sein. „Ich hatte nicht besonders viele Filme gesehen“, sagt Varda in Varda par Agnès. Filme machen wollte sie trotzdem. In einem Interview erinnert sie sich: „(Aber) ich hatte keine Angst, Dinge zu tun, die ich tun wollte. Ich dachte nicht, dass Frauen auf Hindernisse stoßen würden. Ich habe das nie gesehen, besonders nicht beim Filmemachen, wo man nicht stark sein muss. Man muss stark sein, um Schreiner zu sein, vielleicht, aber der Regisseur eines Films muss keine Muskeln haben. Deshalb wusste ich nicht, warum ich es nicht tun können sollte.“
So dreht Varda 1955 – damals knapp 27, das Haar bereits zum für sie typischen Bubikopf frisiert – mit einfachsten Mitteln und viel Improvisation ihren ersten Film La Pointe Courte – und wird damit direkt wegweisend für die Nouvelle Vague, die nicht weniger will, als den französischen Film neu zu erfinden. Für Varda ist es einfach, mit Konventionen und Regeln des Filmemachens zu brechen – sie kennt diese ja gar nicht. Heute gilt Vardas Debut inoffiziell als erster Film der Nouvelle Vague, Varda als „Großmutter der Nouvelle Vague“. In den nächsten Jahren folgen weitere, wegweisende Filme. Cleo – Mittwoch zwischen 5 und 7 von 1961 beispielsweise: Cleo, eine junge Chanson-Sängerin, wartet auf die Diagnose ihres Arztes, sie befürchtet, Krebs zu haben. Varda folgt Cleo beim Warten auf die Ergebnisse durch die Straßen von Paris, beim Besuch einer Wahrsagerin, beim Kauf eines Hutes. Es passiert nicht viel. Und doch. Varda spricht von „subjektiver“ und „objektiver“ Zeit, davon, wie die Zeit manchmal gefühlt viel schneller vergeht, als der Zeiger der Uhr sich bewegt, darüber, wie unsere Emotionen unser Zeitempfinden beeinflussen.
Menschen und Strände
Zahlreiche Spielfilme, Kurzfilme und Dokumentationen hat Agnès Varda seit den 1950ern gedreht und dafür wichtige Preise gewonnen, darunter den César d’honneur (2001), die Goldene Ehrenpalme in Cannes (2015), den Oscar für ihr Lebenswerk (2017) und die Berlinale Kamera (2019). Als älteste Person überhaupt wurde sie mit dem Dokumentarfilm Augenblicke. Gesichter einer Reise für den Oscar 2018 nominiert.
Zum traditionellen Mittagessen mit allen Oscar-Nominierten schickte Varda einen Pappaufsteller ihrer selbst – sie hatte bereits etwas anderes vor.
So verschieden Agnès Vardas Filme sind, so trägt jeder davon doch die Varda eigene Handschrift: Sie selbst spricht von cinécriture, Filmschrift, eine Wortneuschöpfung aus den französischen Begriffen für Kino und Schrift. Die Kamera, so sieht es Varda, ist ihr Stift. Typisch für ihre Form der cinécriture ist die Wechselwirkung zwischen fotografischen und filmischen Elementen. Sie experimentiert mit Gegensätzen, Farben, Formen, oszilliert zwischen Wirklichkeit und Fiktion, immer mit dem Ziel, Gefühle zu vermitteln, ihren Blick auf Menschen zu teilen. Überhaupt, Menschen – für Agnès Varda gibt es nichts Spannenderes. Wenn sie in Varda par Agnès über ihre Begegnungen mit verschiedenen Menschen spricht, mit Witwen, Modelleisenbahnsammlern, Kindern, leuchten ihre Augen. Menschen sind es, die sie zu neuen Projekten inspirieren, die ihren Blick öffnen, immer und immer wieder. Varda schöpft aus dem Leben, ohne dabei jemals der Nostalgie oder dem Kitsch zu verfallen. Mindestens ebenso wichtig wie die Menschen ist für Vardas Schaffen der Strand. „Öffnet man die Leute, findet man Landschaften“, sagt Varda. „Würde man mich öffnen, fände man Strände“. Viele Szenen in Vardas Filmen spielen an Stränden, auch in Varda par Agnès. Da sitzt Varda, auf ihrem Stuhl, den Blick aufs Meer gerichtet:
Das Politische im Privaten
Seit Beginn der 2000er hat Agnès Varda sich anderen Kunstformen zugewendet: 2003 war sie mit einer Installation auf der Biennale in Venedig zu Gast, seitdem ist sie nicht nur Fotografin, Regisseurin und Produzentin – unter anderem –, sondern auch noch bildende Künstlerin. Eine politische oder gesellschaftliche Agenda verfolgt Varda dabei nach eigener Aussage nicht: „(Und) ich bin eine Filmemacherin, die hin und wieder auch mal eine militante Ansicht vertritt, die eine Meinung hat, die sich hier und dort auch mal einmischt, aber ich halte mich dennoch eher für moderat und in erster Linie eben für eine Künstlerin, für eine Filmemacherin (…)“. Trotzdem richtet sich ihr filmisches Auge oft auf Außenseiter der Gesellschaft, auf Benachteiligte – und auf Frauen, auf ihre alltäglichen Kämpfe und Probleme. Varda ist eine Meisterin darin, das Politische im Privaten aufzuzeigen. In L’une chante, l’autre pas von 1977 beispielsweise zeigt sie zwei junge Frauen im Spannungsfeld zwischen Feminismus und alltäglichem Leben. In einer Szene singt eine Frauenrechtlerin auf einer Demonstration ein Lied über Selbstbestimmung, darüber, dass ihr Körper ihr gehört („Mon corps est à moi!“). Eine lustige und zugleich bewegende Szene.
Varda selbst ist überzeugte Feministin, ihrem Publikum in Varda par Agnès erklärt sie schmunzelnd: „Wir haben viel gelacht, als wir für unsere Rechte kämpften.“ 2018 schritt Agnès Varda beim Festival de Cannes zusammen mit 81 anderen Frauen den roten Teppich entlang, Arm in Arm mit Cate Blanchett, um für Gleichberechtigung in der Filmbranche zu demonstrieren. Mit kräftiger Stimme las Varda die französische Übersetzung von Blanchetts Rede vor – Varda, diese kleine, stets bunt gekleidete und pilzbekopfte Frau, die immer an sich und ihre Vision von Kino geglaubt hat. Die sich niemals irgendwem angepasst hat, schon gar nicht dem, was Männer als Normen vorgegeben haben. Ihr sei vieles „schnuppe“, sagt Varda in Varda par Agnès: „Je m’en fiche!“ Aber die wichtigen Dinge, die sind ihr nie egal gewesen. Geschichten. Menschen. Strände.
Bild in der © Cine Tamaris 2018