Self Care vs. Selbstoptimierung – Warum Self Care wenig mit Grünkohl-Smoothie, Gesichtsmasken & Yoga zu tun hat

„Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation, and that is an act of political warfare.” Diesen Satz schreibt die afroamerikanische Schriftstellerin Audre Lorde 1988 in A Burst of Light: Selbstfürsorge als eine Form der politischen Kriegsführung, ein radikaler Akt. 30 Jahre später ist self-care zum Modewort geworden. Einen enormen Popularitätsschub erfuhr das Konzept nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016. Das kollektive Stresslevel stieg und so auch das Bedürfnis, dieses irgendwie unter Kontrolle zu bekommen: Eine Woche nach der Wahl gehörte self-care zu den am meisten gesuchten Begriffen auf Google.

Wer auf Instagram #selfcare eingibt, findet viele Fotos von bauchigen Teetassen, Kosmetikprodukten in Pastelltönen und schlanken Frauen in Yoga-Posen. Dazu inspirierende Zitate, Strände und Superfood-Bowls. Das Bedürfnis nach self-care, nach Ruhe und Rückzug, ist verständlich: Die Welt befindet sich im Chaos, die Nachrichten sind fast ausschließlich negativ. Es ist alles zu viel, zu laut, zu brutal. Aber sind die ästhetisch ansprechenden Superfood-Bowls, die Yoga-Posen, die inspirierenden Zitate wirklich eine Form der politischen Kriegsführung im lordschen Sinne? Die Idee ist verführerisch: Wer es sich abends mit einer Schüssel Chips und Netflix gemütlich macht, der hängt nicht einfach nur rum – er handelt politisch, denn er sorgt für sich selbst, er löst sich aus der frustrierenden Wirklichkeit. So einfach ist es aber nicht.

Von der Selbstsorge zur Seelsorge

Der französische Philosoph Michel Foucault notierte 1984 in Die Sorge um sich, dass der Begriff „Selbstsorge“ in der Ethik der griechisch-römischen Antike eine entscheidende Rolle gespielt habe: So habe Sokrates einem jungen Mann geraten, sich erstmal um sich selbst zu kümmern, bevor er sich als politischer Führer versucht. Selbstsorge als essentieller Teil von Staatsführung, als eine ihrer Grundvoraussetzungen. Menschen, so Sokrates, sollten sich nicht mit ihrem Reichtum oder ihrer Ehre befassen, sondern mit sich selbst und ihrer Seele. Christliche Denker*innen griffen diese Prämisse später auf, woraus die moderne Auffassung von Seelsorge entstand: Die Sorge für die eigene Seele – und damit für sich selbst. Wobei diese Seelsorge im christlichen Sinne nicht individualistisch gemeint ist: Pfarrer*innen und Priester*innen kümmern sich ja vor allem um die Seelen anderer, es geht um die Gemeinde.

In den 1960ern und 1970ern wurde Selbstfürsorge vor allem im medizinischen Kontext diskutiert: Als einen Weg für Menschen in sehr stressigen und emotional anspruchsvollen Jobs, mit den täglichen Belastungen und psychischen Herausforderungen zurechtzukommen. Wer sich nicht richtig um sich selbst kümmert, so die Prämisse, kann sich auch nicht richtig um andere kümmern. Es ging also darum, Menschen dazu zu befähigen, Entscheidungen für ihr eigenes körperliches Wohlbefinden zu treffen. Populär gemacht wurde der Begriff self-care in den 1970ern und 1980ern von Menschen aus der LGBTQ-Community sowie people of color. Sie verstanden Selbstfürsorge als eine Trotzhandlung, eine Herausforderung: an die Gesellschaft, an das kapitalistische System, an die Politik. Es war für sie eine Art, auf dem eigenen Wert zu bestehen, gegenüber einer Kultur, die sie unterdrückt und missachtet. Self-care war das Beharren darauf, dass man zählt, dass man Bedürfnisse hat und dass diese Bedürfnisse es wert sind, ernst genommen zu werden. Nach dem Attentat im LGBTQ-Nachtclub Pulse in Florida 2016, teilten Angehörige der Queer-Community weltweit unter dem Hashtag #queerselflove Selfies. Ein Akt der Solidarität, aber auch der Herausforderung: Hier sind wir, wir zählen.

Ein sicherer Ort

Audre Lorde erlebte als lesbische, schwarze Frau am eigenen Leib, was es bedeutet, wenn sich niemand um einen kümmert, wenn man eigentlich nicht (über)leben sollte: mit diesem Körper, dieser Hautfarbe, dieser sexuellen Orientierung. Self-care in diesem Kontext ist radikal, weil sie sich auf etwas richtet, das in der Gesellschaft sonst wenig zählt. Mit dem careless, unachtsam, umgegangen wird.

 

Ein von @saintrecords geteilter Beitrag am

Ein Gefühl, dass auch die Sängerin Solange kennt. Im Song Borderline (An Ode to Self Care) singt sie: „Baby, you know you’re tired / Know I‘m tired / Let’s take it off tonight… Baby, it’s war outside these walls / A safe place tonight / Let’s play it safe tonight”. In einem Interview erklärte sie, warum self-care für sie als Afroamerikanerin so wichtig ist: Angesichts der Mörder mehrere junger schwarzer Männer habe sie sich bewusst dazu entschieden, wegzuschauen. Die Nachrichten nicht zu gucken. Für sie sei das notwendig gewesen, um überhaupt weiterzuleben, ohne Wut und ohne Kummer. Um morgens aufstehen und ihrem Sohn einen wunderbaren Tag wünschen zu können, wissend, dass er beschützt und geliebt sein wird, müsse sie sich manchmal dazu entscheiden, nicht hinzusehen. Borderline, so Solange, sei deshalb eine „Ode daran, wie unser Zuhause ein sicherer Ort wird, wo wir einfach lieben können und uns nicht mit den intensiven Dingen beschäftigen müssen, die mit dem Existieren in diesen Räumen einhergehen.“

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Selbstfürsorge als kuratierter Instagram-Lifestyle

Was hat all das mit der allgegenwärtigen #selfcare in den sozialen Netzwerken zu tun? Wenig. Selbstfürsorge als Begriff droht, bedeutungslos zu werden. Sie ist nun etwas, das man kaufen kann, ein sorgfältig kuratierter Instagram-Lifestyle, ein Statussymbol. Selbstfürsorge wird ritualisiert, fetischisiert und zur Religion erhoben. Von ihrer ursprünglichen Radikalität ist 2019 kaum noch etwas übrig, sie ist Teil der milliardenschweren Wellness-Industrie geworden. Gleichzeitig ist sie nach wie vor wichtig für Menschen, die sich beispielsweise in anti-rassistischen oder feministischen Kontexten engagieren, die emotional schwierige Jobs haben. Was ihnen jedoch schnell den (absurden) Vorwurf einbringt, egoistisch zu sein, sich lieber auf ihr eigenes Wohlergehen zu konzentrieren, statt auf die Gesamtgesellschaft.

Tatsächlich hat Audre Lorde darüber geschrieben, wie Selbstfürsorge zum Hemmnis werden kann, wie sie einen davon abhalten kann, wichtige politische und gesellschaftliche Kämpfe zu führen. Trotzdem, und darauf beharrt Lorde: Selbstfürsorge ist essentiell, um diese Kämpfe überhaupt führen zu können. Denn dabei geht es nicht darum, sich selbst zu pampern, Gesichtsmasken aufzulegen und die Welt Welt sein zu lassen. Es geht darum, Wege zu finden, in dieser Welt überhaupt zu existieren. Selbstfürsorge in diesem Sinne ist Selbsterhaltung. Es ist unwahrscheinlich, dass all die Menschen, die unter den Hashtags #selfcare oder #selfcaresunday Fotos von grünen Smoothies posten, diese essentielle Form der Selbstfürsorge brauchen. Selbstfürsorge tritt in der gefilterten Welt von Social Media vor allem als eine Art Selbstoptimierungs-Werkzeug in Erscheinung. Es geht darum, sich zu verbessern – Clean Eating, Yoga, Meditation. Become the best version of yourself!

Zwischen Selbstfürsorge und Selbstverhätschelung

Sich um sich zu kümmern und darauf zu warten, dass die Gesellschaft sich ändert, ist natürlich bequemer, als in irgendeiner Art aktiv zu werden. Die britische Feministin Laurie Penny schreibt: „Bei der schwierigeren, langweiligeren Arbeit der Selbstfürsorge geht es um die alltägliche, unmögliche Anstrengung, aufzustehen und dein Leben durchzustehen in einer Welt, die dich gerne entmutigt und fügsam hätte.“

Ein Abend auf dem Sofa, Gesichtsmasken, Netflix und Yoga sind völlig okay – sie sind aber eben nicht automatisch eine Form des politischen Aktivismus. Was nicht heißt, dass sie es in bestimmten Kontexten nicht sein können. Die Grenze zwischen radikaler Selbstfürsorge und, nun ja, Selbstverhätschelung zu ziehen, ist nicht leicht. Letzten Endes geht es vielleicht schlicht um Privilegien: Selbstfürsorge, wie sie sich in den sozialen Netzwerken und als Teil der Wellness-Industrie präsentiert, ist zu etwas geworden, das viele sich schlicht und einfach nicht leisten können. Dabei sollte Selbstfürsorge gerade kein Privileg sein, sondern etwas, das allen zugänglich ist. Sie sollte kein Mittel sein, durch welches Körper und Menschen auf- oder abgewertet werden.

Die Wahrheit ist: Ein Grünkohl-Smoothie kann gegen die Trumps dieser Welt nichts ausrichten. Selbstfürsorge als apolitische Rückzugstaktik, bei der es um die eigene Optimierung und individuelle Glücksgefühle geht, ist nicht die „self-care as warfare“, von der Audre Lorde spricht.

6 Kommentare

  1. Eva

    Danke für diesen sehr wichtigen Artikel. Eine Buchempfehlung, die sich diesem Thema und noch mehr widmet: „Warum Menschen sowas mitmachen“-Achtzehn Sichtweisen auf das Leben im Neoliberalismus. von Patrick Schreiner. Als Frau in der Arbeit mit geflüchteten Frauen kenne ich das Gefühl zwischen-was tut wirklich gut und wo sind meine Grenzen sehr gut. Vor allem ist es immer wieder schwer sich nicht für eine 50 Stunden Woche meinen optimieren zu müssen, zu denken „wenn ich doch nur mehr meditiere, achtsamer mit mir bin, gesünder esse, mehr Sport, mehr Selbst-Ratgeber..etc.“ kann ich funktionieren. Oft ist nicht funktionieren das heilsamste. Und schwer zugleich im ganzen Leben. Danke danke danke dafür dass ihr hier solche Themen aufgreift, die aus der Seele sprechen und soviel Weitblick von euch allen zeigen. Alles Liebe für alle

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  2. Linda

    Auch ich möchte mich für diesen Artikel bedanken. Mir dürstet es nach dem lesen direkt nach Gesprächen mit anderen zu diesem Thema. Und in den Schilderungen von Solange finde ich mich absolut wieder. Ich war lange Jahre politisch absolut überinformiert. Konnte Zahlendreher verschiedener Berichterstatter sofort identifizieren und fehlende Quellenangaben machten mich kirre. Als ich schwanger wurde, spürte ich wie ich meine Prioritäten so lagern muss, das es mir und meinem Kind gut gehen kann. Damals half mir nur eine komplette Nachrichtenabstinenz. Zum Wohle meiner Tochter.
    Das Leben ist wirklich verrückt!

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  3. Fine

    Hallo Julia, tausend Dank für diesen und all die anderen Artikel- bei weitem meine Favoriten hier auf tijw!

    Selfcare bedeutet inzwischen für mich persönlich Grenzen ziehen, wo auch immer mir etwas nicht gut tut. Und nein sagen zu all den Verkaufsstrategien die bei mir allzu oft anschlagen und mich denken lassen, dass ich mir etwas Gutes mit einer Maske tue, die ein halbes Vermögen kostet. Und mein Instagram auszusortieren bei allem was Neid erzeugt.

    Sag mal hast du nicht vielleicht mal Lust eine Vorbilder Reihe zu starten? Oder deine liebsten Blogs oder Zeitschriften oder so? Mir fehlt mehr Input in dieser Art, gerne auch englischsprachig!

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  4. Sophie

    Der Artikel kommt mir sehr bekannt vor, v.a. der Hinweis auf Lorde und Foucault – hast du dich von Kinfolk inspirieren lassen?

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  5. Seraphine

    Liebe Julia, danke dass du dieses so unendlich zeitgemäße Thema so wunderbar in Worte fasst! Interessanterweise fällt es sehr vielen Aktivist*innen sehr schwer, für sich zu sorgen, auch weil man der neoliberale Idee von selfcare eben nicht entsprechen will. Die feine Differenz zwischen wahrer selbstfürsorge im sokratischen/focaultschen/lordschen Sinne und hipper selfcare zu artikulieren, ist daher so wichtig. Es ist eine Herausforderung, für sich selbst zu sorgen, politisch aktiv zu sein und optimistisch zu bleiben.

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  6. Pingback: Medientipps zum Themenzyklus Selbstfürsorge - klit:COLOGNE

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