Ich bin sicherlich nicht die Einzige, die seit der Verfilmung von Volker Kutschers „Der nasse Fisch“ − auch bekannt als „Babylon Berlin“ − auf einer goldenen Zwanziger Jahre Welle schwimmt. Berlin, dieser Strudel aus verschiedensten Lebensrealitäten samt Schattengestalten, glamourösen Hochs und aschfahlen Tiefs, hat es mir sowohl heute als auch in den retrospektiven Adaptionen mehr als angetan. Für alle, die wie ich, nicht genug von der herben Romantik des lange vergangenen Jahrzehnts bekommen können, steht ab heute ein neuer Hörspiel-Blockbuster aus dem Hause Audible auf dem Programm: In „Die Juten Sitten: Goldene Zwanziger. Dreckige Wahrheiten“ von Autorin Anna Basener, werden wir in eine Schattenwelt entführt, die mit politischen Botschaften, denen es an Aktualität durchaus nicht mangelt, gespickt ist. In den dunklen Hinterhöfen der Großstadt treffen wir auf die stigmatisierte Welt der „Prostitution“ und ihre Protagonist*innen.
Während Erzählerin Hedi ihre Vergangenheit im Berlin der Zwanziger Jahre aus ihrer Endstation, einer Todeszelle in Kalifornien im Jahre 1954, Revue passieren lässt, erhält die Zuhörer*in einen nahezu einzigartigen und ungeschönten Einblick in die gelebte Emanzipation vor knapp einhundert Jahren. Die Schauspielerin ist stolz auf ihre Vergangenheit und scheut sich nicht davor zu erzählen, ihrer Karriere auf einer Basis von selbstbestimmten, sexuellen Gefälligkeit aufgebaut zu haben. Auch lässt sie hierbei ihre Kindheit in einem Bordell nicht außer Acht. Rückblickend tauchen wir in eine Welt voller erkämpfter Freizügigkeit ein und lernen Charaktere kennen,
die sich bewusst und unbewusst positionieren und dabei voller Leidenschaft für ein Metier einstehen, das damals wie heute verschriener und stigmatisierter nicht sein könnte.
Das Bordell „Zur Ritze“ ist Schauplatz der besonderen und mitreißenden Geschichte rund um Hedi, Colette, Natalia und Fritz, die in ihrer Individualität die Liebe zu sich selbst und zu ihrer Arbeit vereinen.
Dass die Zwanziger nicht als prüdes Jahrzehnt bekannt sind, ist wohl den wenigsten neu. Ein lebensnaher Einblick in die Lebenswelt von Sexarbeiterinnen vermutlich eher schon.
Sexarbeit – ein Wort, das nicht nur mit dem Stigma von „Prostitution“ aufzuräumen versucht, sondern gleichzeitig die tatsächliche Arbeit und Selbstbestimmtheit von Akteur*innen ins Zentrum rückt. Ohne individuelle Schicksale unter einen Teppich zu kehren, ist es wichtig, Menschen für die Arbeit, für die sie sich proaktiv entschieden haben, zu respektieren und ihren Beitrag wertzuschätzen. Hierbei sollte eine Gesellschaft für einen gleichberechtigten und respektvollen Umgang mit Sexarbeiter*innen sensibilisiert, und gleichzeitig über individuelle Lebenswelten und Leidenschaften informiert werden. Warum fällt es vielen Menschen dennoch so schwer, feministische Positionen und Sexarbeit vereint zu sehen?
„Prostitution“ ist ein Stigma, das so alt scheint wie Berufe im Kontext der Sexarbeit an sich. Medial hält sich das Bild der gefallenen oder abhängigen Frau, deren Berufswahl eine Entscheidung bleibt, die auf problematisierter sozialer Herkunft und persönlichen Problemen basiert. Hierbei werden Lebensrealitäten von Sexarbeiter*innen generalisiert und pathologisiert, Gerüchte um die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen und einen generellen Leidensdruck unter der Berufswahl halten sich wacker. Im Zentrum steht die Frage, welche gesellschaftliche Sicht auf Frauen im Berufsfeld Sexarbeit vorherrscht und wie wir, neben der relevanten Auseinandersetzung mit dem Schutz der Akteurinnen, damit umgehen, Berufe im Zusammenhang mit sexuellen Dienstleistungen nicht automatisch zu negieren oder Schicksale zu generalisieren.
Wem gehört die Nacht? Wer sind die Frauen, die in den beschriebenen Debatten zu selten zu Wort zu kommen scheinen? Mit diesen Fragen hat sich Autorin Anna Basener im Hinblick auf ihre neueste Kreation „Die Juten Sitten“ auseinandergesetzt. Die Idee war, all denen, die sonst nicht gehört werden, sowohl eine fiktiv-realistische Bühne zu bieten, als ihnen auch Stimme zu verleihen.
„Ihre Arbeit ist das Schmieröl einer Sex-Traumfabrik, die selbst Pariser*innen die Röte ins Gesicht getrieben haben soll“
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Sexarbeiterinnen in einem zeitlich entfernten Berlin, das dennoch so wenig fremd erscheint. „Ihre Arbeit ist das Schmieröl einer Sex-Traumfabrik, die selbst Parisern die Röte ins Gesicht getrieben haben soll“, sagt die gebürtige Essenerin, die 2018 für ihren Roman „Als die Omma den Huren noch Taubensuppe kochte“ mit dem Putlitzer Preis ausgezeichnet wurde. In einem Blitzinterview habe ich die Autorin außerdem zu ihrem neusten Hörspiel in Zusammenarbeit mit Audible löchern dürfen:
Wie kamst du dazu, dich in deiner Arbeit mit dem Spektrum Sexarbeit auseinanderzusetzen?Sexarbeit interessiert mich, weil sie gesellschaftlich so tabuisiert ist. Das führt dazu, dass Menschen ganz schnell eine Meinung zur „Prostitution“ haben, ohne etwas darüber zu wissen oder sich weiter zu informieren. Es führt dazu, dass besonders die Frauen in diesem Berufsfeld, stigmatisiert und sehr schnell zu Opfern gemacht werden. Es gibt aber viel mehr zu erzählen und andere Blickwinkel, als die des gefallenen Mädchens und des bösen Zuhälters. Wo lagen für dich hierbei die größten Schwierigkeiten? Was war am schönsten?Es war nicht so leicht, an Sexarbeiter*innen ranzukommen, die offen über ihre Arbeit sprechen möchten. Als ich dann aber welche gefunden hatte, hatte ich großartige Gespräche. Ich habe so faszinierende und starke Persönlichkeiten kennengelernt, dass diese Erfahrung für mich zum schönsten Moment wurde. Warum schließen sich Sexarbeit und Feminismus deiner Meinung nicht aus?Es gibt viele Thesen, in denen „Prostitution“ als Symptom des Patriarchats verstanden wird, und da ist viel Wahres dran. Ich glaube, wenn wir das Patriarchat abschaffen, ändern sich auch das Angebot in der Sexarbeit und die Arbeitsbedingungen. Da ist sehr viel Scheiße dabei. Das Argument ist dann ja aber gegen das Patriarchat und nicht gegen Sexarbeit per se. Ich möchte in einer Welt leben, in der jede*r mit seinem Körper machen kann, was er oder sie will, auch Sexarbeit anbieten. Einem Menschen dieses Recht abzusprechen kommt mir nicht feministisch vor, sondern als massiver Eingriff in persönliche Freiheit. |
Welche*r der Protagonist*innen ist dein absoluter Liebling?Oh Gott, das kann ich unmöglich sagen. Sie brauchen einander zu sehr. Die eine ist die Sehnsucht des anderen und der wiederum der Untergang der nächsten … Ich habe eine Hure und eine Domina, die unerschrockene Puffmutter, den schönen aber prüden Journalisten, den selbstgefälligen Gigolo und den jungen Stricher, der genug Schuld auf sich geladen hat, dass es für alle anderen reichen würde und trotzdem versucht ein guter Mensch zu sein. Wie soll ich mich da entscheiden? Und wer von ihnen hat für dich die modernste Position im Hinblick auf aktuelle feministische Debatten?Der Gigolo Fritz ist definitiv ein misogyner Antifeminist. Von ihm abgesehen sind alle Hauptfiguren Feminist*innen. Sie haben natürlich den Blick der Zwanziger und nicht viel mit unseren Diskursen von heute am Hut. Colette und Minna zum Beispiel kämpfen jede auf ihre Art sehr dafür, als unabhängige Geschäftsfrauen wahrgenommen zu werden. Und sie leben alle in einer Welt, in der Diversität ähnlich weit ist wie heute. Wenn man sich den Umgang mit Sex in der damaligen „Schattengesellschaft“ anschaut, bekommt man sogar den Eindruck, als wären sie damals weiter gewesen, wenn es um Blickwinkel und Reputation von Geschlecht und Sexualität geht. Natürlich ist es noch immer ein starker Kontrast zu ländlicheren Lebenswelten von früher. Die heutige Diskussion um Gender und Diversität scheint mir damals schon kurz auf der Startrampe gestanden zu haben, und sie wäre bestimmt viel früher abgehoben, wenn ein modern anmutendes Deutschland im Anschluss an die Zwanziger Jahre unter den Nazis nicht vollends untergegangen wäre. |
Was hilft dir dabei, dich beim Schreiben in ein lange vergangenes Jahrzehnt hineinzuversetzen?Bilder und Musik aus der Zeit. Die Jeanne Mammen Ausstellung in der Berlinischen Galerie letztes Jahr kam für mich gerade richtig, auch zur Inspiration. Und der Keller des Gründerzeitmuseums ist auch super, da steht die komplette Originaleinrichtung der „Ritze“ aus der Mulackstraße. Das war eine Kneipe für schwere Jungs und leichte Mädchen, in der Marlene Dietrich und Hans Albers gefeiert haben sollen. Jetzt kann man sie inklusive Hungerturm, Hurenstube und Hurenbock in Mahlsdorf besichtigen. Sie ist immer einen Ausflug wert! |
„Die Juten Sitten: Goldene Zwanziger. Dreckige Wahrheiten“ ist die Collage moderner Frauen der Zwanziger, die sich in ihren Lebenswelten stark und selbstbewusst positionieren. Die Hörerin darf, geführt durch die Stimmen von Jeanette Hain, Saskia Rosendahl, Natalia Belitski, Edin Hasanovic und vielen mehr, in die Schattenwelt eines wilden Berlins eintauchen, welche sich hinter samtenen Paravons und bröckelnden Häuserfassaden versteckt. Regisseurin Anja Herrenbrück zieht gekonnt die Brücke zwischen damals und heute, unterstützt durch eingängigen Swing außergewöhnliche Bandeon-Klänge. Kino in den Kopfhörern. Ob auf dem Sofa, auf Reisen oder vor dem Schlafengehen.
Während viele Leute Hörspiele als ein Rudiment aus dem Kinderzimmer einordnen, kuratiert Audible eine große Bandbreite von Hörerlebnissen ganz ohne Altersbegrenzung. „Die Juten Sitten“ (Altersempfehlung ab 18 Jahren) ist wie ein Film nur eben für die Ohren. Voll von eindrucksvoll eingesprochenen Monologen und unverschämt derben Erzählungen für diejenigen, die hin und wieder Lust haben, sich in vergessenen Zeiten zu verlieren, im Kopfkino abzuschalten und all die, die etwas übrig haben für Berliner Schnauzen vom Feinsten.