Kolumne // Werdet Früh(er)aufsteherInnen, aber vergesst den „Miracle Morning“.

16.04.2019 box2, Kolumne

Wenn mir jemand vor einem halben Jahr hätte verklickern wollen, dass wirklich frühes Aufstehen eine wirklich gute Idee sei, wäre ich wohl sehr schnell damit gewesen, an der psychischen Konstitution meines Gegenübers zu zweifeln, oder mehr noch: Unsere gesamte Freundschaft infrage zu stellen. Mit weit aufgerissenen Augen hätte ich dagesessen, ungläubig und fassungslos und auch ein bisschen verachtend, mit hektisch gen Stirn tippendem Vogelfinger, und auf jeden Fall bereit, diese von Anna Wintour und Jack Dorsey heiß geliebten „Miracle Mornings“ in dieselbe Quatsch-mit-Soße-Schublade zu stecken wie „Juice Cleanse“ und „Super Foods“, ganz einfach, weil ich vor lauter vermeintlich gesunder Modeerscheinungen sowie längst das Gefühl habe, ein Leben wie aus der McDonalds-Reklame zu führen sobald ich mal vergesse, den gewachsten Apfel zu waschen.  Haben die denn noch nie etwas vom magischem Ausschlafen gehört? Scherzkekse. Und Lemminge! Wenn Gucci jetzt nicht nur Interior-Klimbim, sondern auch noch Mandalas zum Ausmalen auf den Markt würfe und zeitgleich ein paar Chef-Managerinnen dazu bewegen könnte, sich selbst beim hypnotischen Ausfüllen wellenförmiger Ornamente zu inszenieren, wäre sicher auch ratzfatz ein neuer Hit geboren. Weil genial simpel und wieder so schrecklich gut für die Mental Health

Ihr seht das ganz richtig: Hochmütig wie eine Siamkatze belächelte ich schon allein aus Prinzip alles, was für Erleuchtete seit jeher zur Routine gehört. Was ich da noch nicht wusste: Wer zuletzt lacht, lacht im schlimmsten Fall tatsächlich am besten. Ich hätte es ahnen können, auch diesmal. Aber die Abwehr gegen besagte (nun schon seit geraumer Zeit anhaltende und penetrante) Glorifizierung des Frühen Vogeltums war groß. Bis die Not größer wurde und ich ganz klein mit Hut.

 

 

 

 
 
 
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Ein Beitrag geteilt von NIKE VAN DINTHER | JANE WAYNE (@nikejane) am

Jetzt, einen Lebenswandel und dreißig Wassernudel-Ritte später, bin auch ich, was ich niemals werden wollte, erst recht nicht seit ich Mutter und sowieso ständig neidisch auf verkaterte Liegenbleiber bin, nämlich: Freiwillige Frühaufsteherin. Obwohl, gelogen. FrühERaufsteherin, das ist es. Ich bin den Medien, oder besser Headlines, quasi halb auf den Leim gegangen und zwar ganz ohne das berühmte Buch von Hal Elrod zum Thema überhaupt gelesen zu haben. Dort wird, das weiß ich inzwischen auch, die sogenannte „Life-S.A.V.E.R.S.„-Methode propagiert. Und die geht so:

Erstmal SILENCE (also Meditation, Mandalas malen oder Atemübungen), dann AFFIRMATION (Mensch Meyer, was sehe ich heute wieder scharf aus und klug bin ich auch, was hab ich den an diesem schönen Tag eigentlich vor, wie auch immer, ran an die Buletten), nun die VISUALISIERUNG (Ziele ausdenken, aufschreiben oder -malen), dicht gefolgt von den EXERCISES (Früh-Sport!) und READING, selbsterklärend, bis hin zum abschließenden Notieren der wichtigsten Gedanken und Ideen des Morgens, auch SCRIBBLING genannt.

Komischer Weise klingt das in meinem Ohren gar nicht (mehr) so verkehrt, aber es ist wie es ist, ich bin zu alt, um mich von Grund auf zu ändern. Eine sechs-punktige To-Do-Liste vor halb Zehn erscheint mir noch immer so falsch wie viel Bier vor vier an einem Werktag, an dem die Sonne nicht scheint. Die gute Nachricht für alle, die ähnlich fühlen: Es geht (zunächst) auch ohne (so viel Zwang).

Dazu stelle man sich am Vorabend einfach einen Wecker, der ungefähr eine bis eineinhalb Stunden früher als gewohnt klingelt, fertig.

 

Gut, sich aufrappeln muss man trotzdem noch, aber das funktioniert zum Beispiel besser, indem man der Logik entsprechend auch einfach eine Stunde früher unter die Decke springt. Am Anfang fällt es scheiße schwer, da brauchen wir uns nichts vormachen, aber nach ein paar Anläufen setzt recht schnell eine ungeahnt wohlige Befriedung ein. Das Gefühl, ein bisschen früher dran zu sein als nötig, beruhigt ungemein. macht sogar heimlich erhaben! Da geht der Puls endlich runter! Die Vögel zwitschern! Und plötzlich ist da diese Ruhe! Mehr Zeit zum stolz auf sich selbst sein, zum Bummeln, zum Alleinsein, zum Blumenwasserwechseln, für die TAZ, für krasse Frühstückskreationen, meinetwegen auch für Lästiges, also die Dinge, für die im Alltag sonst keine Minute bleibt. Bevor die Kinder aufwachen, bevor die Arbeitskolleginnen mit ihren Kaffeetassen klirren, bevor überhaupt irgendwer nerven kann! Ich bin jetzt selbst die größte Nervensäge! Ich allein! Findet jedenfalls mein Freund, der sich einfach nicht erleuchten lassen und stattdessen lieber weiter pennen will. Aber ich darf das! Weil ja offenbar, laut Celebrity-Check, gar kein Ruf mehr zu ruinieren ist, mit so einer salonfähigen Marotte wie dem Früh(er)aufstehen. 

 
 
 
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Ein Beitrag geteilt von Vibecke Haagensen (@vibecke66) am

Ihr seht: Eingeknickt bin ich, voller Innbrunst. Und ich rate euch: Tut es auch! Werdet Frühaufsteherinnen! Aber beruhigt euch erstmal. Magische Wunder-Morgen inklusive Müßiggang sind nämlich trotz all des Selfcare-Wahns kein Hexenwerk. Ganz im Gegenteil sogar. Warum sollten wir uns ein Leben lang beeilen und zwar schon direkt nach dem Aufwachen? Entschleunigung, da ist sie wieder und nichts anderes macht Sinn – außer das Leben kommt dazwischen. Was hoffentlich trotz guter Vorsätze permanent passiert. Wilde Nächte müssen endlos bleiben dürfen und manch junger Tag schreit von ganz allein nur so nach nochmal umdrehen. Dann hilft natürlich nur Liegenbleiben. Auch nicht schlimm.

Super gelassene oder mords aktive Früheraufsteherin kann man, aufgepasst, ohne Probleme auch nur Montags sein. Oder immer wieder Mittwochs. Vielleicht auch an drei Tagen pro Woche. Oder mal so, mal so – je nach Belieben eben. Mit folgendem Zitat in Baumarkt-Deko-Manier wendet sich Elrod, der Guru der Morgenmenschen, schließlich sogar selbst noch an Normalos wie uns:

„Give Up Being Perfect for Being Authentic“. 

Jawoll. Werde mir das Buch trotzdem nicht kaufen. Noch mehr Professionalisierung des Alltags schreit für mich nämlich nicht nach Mental Health. Sondern, um im passenden Vokabular zu bleiben, nach ganz schlimmer Mental Myserie plus Pippikacka Pressure gratis obendrauf. Muss nicht sein – im doppelten und wahrsten aller Sinne. Dann male ich doch lieber Mandalas. Zur Strafe, weil ich  heute Morgen schon wieder länger geschlafen habe als man den Wecker snoozen kann.

9 Kommentare

  1. Nina

    Ach Nike, deine Kolumnen sind aber auch gerade wieder zum anbeißen! Sehr schön auf den Punkt gebracht. Bin letzten sommer auch zur FrühERaufsteherin geworden und konnte es selbst gar nicht glauben. Toll war das. Im Winter hingegen, hat das leider überhaupt nicht klappen wollen. Da bin ich wohl eher Igel. Aber jetzt darf es gerne wieder losgehen!

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  2. Mia

    Ach Nike, ich kichere in den Morgen-Kaffee, danke für diese wunderbare Aneinanderreihung deiner Worte& Gedanken. Ganz viel Liebe für dich ♡

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  3. Lea

    Sehr cool! Und wann gehst du nun neu ins Bett bzw stehst du auf?

    Ich bin nämlich auch Verfechterin. Mit neuem Job und längerer Anfahrtszeit ist „früh“ aber mittlerweile sehr früh geworden und ich bin wieder etwas weg davon …

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  4. Sara

    Ich würde so gerne, der ruhige selbstbestimmte Morgen tut sicher sehr gut! Aber bei einem Kind, das um 5.30 Uhr aufsteht, wäre noch früheres Aufstehen einfach nur bescheuert. Wann steht Lio denn auf? LG

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    1. Nike Jane Artikelautorin

      Ach du meine Güte, ja, das verstehe ich! Auch ein Grund, weshalb ich manchmal über die Miracle Mornings schmunzle, weil das Konzept so viele Menschen ausschließt – Eltern zum Beispiel oder SchichtarbeiterInnen, alle, die sowieso sau früh aufstehen müssen. Ich lebe mit Lios Papa ja das 50/50 Modell und muss erst um 9 Uhr im Büro sein. An den Tagen, an denen Lio da ist, habe ich meist auch Glück, weil Lio schon immer ein Langschläfer war. Manchmal muss ich ihn wecken, weil er oft bis etwa 8 Uhr schläft, seit Neuestem wacht er aber auch mal um sieben auf. Ein Hin und Her. Mein Wecker steht deshalb die Hälfte der Woche auf 6.00 und an den anderen Tagen auf 7 Uhr. An mindestens zwei Tagen bin ich morgens aber zu platt und bleibe doch liegen bis das Kind mich weckt.

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      1. Mila

        Genau, die miracle mornings klingen in der Theorie wirklich toll, sind für viele (ich behaupte sogar für die meisten) in ihrem Vollanspruch nicht lebbar. Unsere Töchter müssen um 8 in der Schule sein – da muss ich/müssen wir sowieso früh raus, um sie aufzuwecken (was nicht einfach ist!), Frühstück und Brotdose machen, zum Anziehen antreiben, den linken Turnschuh suchen, weil … ach, Mist, heute ist ja Sportunterricht …etc. Am besten geht das alles, wenn ich selbst wenigstens schon den ersten Kaffee intus habe. Und sobald meine Kinder um 7.30 los sind, muss ich mich für den Arbeitstag fertigmachen. Ich habe echt keine Ahnung, wo ich da noch Meditation, Reading und Scribbling unterbringen sollte. Vielleicht um 4.30 am Morgen, aber das ist mir dann echt zu früh …

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        1. frida

          Erschwerend kommt noch hinzu, wenn der Wohnraum nicht so großzügig ist, dass man im Westflügel aufstehen und Dinge machen kann, während im Ostflügel die Kinder noch schlafen….Das geht einfach nicht. Schon der Wasserkocher brummt so laut, dass mein Sohn um die Ecke kommt und dann ist es schnell vorbei mit der Meditation. Mein Durchbruch war, die Morgenroutine (bei mir 1h Yoga) nach draussen zu verlegen. Gute Tage starten also am Abend vorher, ich bereite Pausenboxen vor, suche Turnbeutel, lege meine Klamotten raus… und dann bleibt tatsächlich Zeit vor dem Büro für eine Stunde Innehalten. Ich mache das erst seit Februar, daher bin ich noch immer stolz auf mich, wenn ich das auf die Reihe kriege. Manchmal bin ich abends aber auch einfach nur platt…. und ich bin froh wenn ich halbwegs pünktlich mit feuchten Haaren im Büro sitze.

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  5. Franziska

    In der Theorie klingt das ja alles toll mit dem Frühsport und dem Lesen der Zeitung und so. Aber ich weiß echt nicht wie ich das schaffen könnte. Ich stehe sowieso schon 5:45 Uhr auf um 8:00 Uhr im Büro zu sein. Das liegt vielleicht daran, dass ich nicht zu meiner Arbeit laufen kann sondern die S-Bahn nehmen muss um dann von der Bahn nochmal zum Büro zu laufen.
    Morgens könnte ich natürlich auch irgendwie innerhalb von 30 Minuten duschen, Outfit überstreifen, schminken und in meinem Fall die Katzen füttern. Aber das wäre mir zu hektisch.
    Also ist das wahrscheinlich meine Art und Weise gut in den Tag zu starten. Ich stehe extra nicht 7 Uhr auf um in 30 Minuten wie ein Tornado durch die Wohnung zu randalieren, sondern nehme mir viel Zeit und starte entspannt in den Tag.

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  6. Pat

    Liebe für diese Kolumne! Danke für die Inspiration, ich werde es wirklich ausprobieren. Du bist die Erste, die mich überzeugt, dass es auch für mich gut sein könnte!
    Liebst, Pat

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