Vorgestern Abend empfing ich eine SMS aus Paris, von einer Freundin, die das 11. Pariser Arrondissement seit 12 Jahren ihr Zuhause nennt, die für immer bleiben will und dennoch sagt, seit den Terroranschlägen am 13. November 2015 habe sich das Leben dort verändert. „Notre Dame steht in Flammen“, schrieb sie mir in wirr aneinander gereihten Kleinbuchstaben, ich musste zwei Mal hinsehen um zu verstehen. „Aber wir wissen noch nicht, warum.“ Die Menschen um sie herum stünden fassungslos da, viele würden weinen und sich an den Händen halten. „Ich weiß nicht, ob sie wirklich um die Kathedrale trauern, oder einfach Angst haben“, schob sie noch hinterher, „als würde eine alte Wunde wieder aufgerissen werden“.
Ich las und weigerte mich, auch nur einen Gedanken an Terror zu verschwenden. Kurz darauf stand ohnehin fest: Es war ein Unfall. Und noch immer weist nichts auf eine vorsätzliche Tat hin. Weshalb mich vor allem der gestrige Tag irritiert zurück ließ. Mein Instagram-Feed wurde im Minuten-Takt von Trauer-Bekundungen und großer Anteilnahme geschwemmt. Hatte ich vielleicht ein Detail übersehen? Nein.
Versteht mich nicht falsch. Auch ich weiß um die Symbolkraft des Weltkulturerbes Notre Dame, am 24. August 1944 hatte das Glockenläuten die Befreiung von Paris von der deutschen Besatzung verkündet, ich habe Victor Hugo gelesen, verstehe den Schock, das Gefühl aufreißender Wunden, ich habe Respekt vor den Feuerwehrleuten, die es schafften, den Brand vollständig zu löschen, davor, dass dieser Ort für viele Menschen vor allem eine Begegnungsstätte war, trauere vielleicht sogar aufrichtig um die verkohlte gotische Architektur. Dachte sogar kurz darüber nach, ob die Leute sich womöglich auch aufgrund eines ganz bestimmten Sinnbildes so betroffen zeigen: Weil eben nicht nur Notre Dame in Flammen steht, sondern ganz Europa, wegen des offensichtlichen Rechtsrucks etwa, wegen „liberaler“ Autokratien und cleverer Nationalisten. Der Grundtenor aber klang anders, ich hörte und las permanent nur: Notre Dame! Von dort hatte man die beste Aussicht! Sie war das Herz unserer Identität! Die Kathedrale hat so viele inspiriert!
Ja natürlich hat sie das. Zu Großem und Gutem einerseits. Aber auch: Zu extremer Gläubigkeit, Größenwahn (Napoleon setzte sich hier selbst die Krone auf den Kopf), zu Massakern und Macht zum Beispiel. Denn auch das ist Notre Dame, leider. Und: Der Inbegriff von Dekadenz. Während im gesamten Land Hunger und Not herrschte, steckte die katholische Kirche ihr Geld in Prachtbauten und dekorativen Luxus, errichtete zwischen 1100 und 1250 nicht nur Notre Dame, sondern ungefähr 1472 weitere Kirchen. Die Liste der fragwürdigen Erinnerungen an das Zuhause von Quasimodo ist endlos lang. Aber sei’s drum, schön anzusehen ist „das Herz Frankreichs“, sein Ursprungsort, ja schon (gewesen). Es ist ja auch nicht alles weg von der gigantischen Touristen-Attraktion. Eigentlich steht da sogar noch recht viel. Warum diesen neuen Teil der Geschichte also nicht akzeptieren? Und zum Beispiel nur flicken, was eben geflickt werden muss? Etwas Neues schaffen? Stattdessen soll in Zukunft alles „noch hübscher“ werden. Vergleiche sind scheiße, aber hier geht es um Relationen:
Von Syriens Kulturgütern ist nach acht Jahren Krieg jedenfalls wenig bis nichts übrig. Ganze Kinderkrankenhäuser und Städte wurden und werden zerbombt. Es starben und sterben Menschen, jeden Tag, überall auf der Welt. Der Jemen verhungert. Was wir nicht vergessen dürfen: Daran sind auch wir, die Westliche Welt, schuld. Aber das nur als schneller Blick über „unseren“ eurozentrischen Tellerrand hinaus, der durch den medialen Umgang mit dem Unglück von Notre Dame wieder einmal besonders sichtbar wurde. Aber nein, wie gesagt, an Trauer ist überhaupt nichts verkehrt, dennoch können die Ausmaße ebenjener tatsächlich Ausdruck einer viel größeren Problematik sein. Darüber einmal nachzudenken lohnt jedenfalls. Dass sich seit Jahren konkurrierende Milliadärsfamilien nun aber ein öffentliches Stelldichein um die höchsten Spendensummen für den Wiederaufbau der Pariser Kathedrale leisten, macht mich fassungslos. Mehr als 800 Millionen liegen bereits jetzt, 48 Stunden später, bereit. Dabei ist die Katholische Kirche selbst steinreich. Zahlen will sie freilich nichts – offizieller Besitzer sei nunmal Frankreich.
Auch egal. Dank großzügiger Spenden soll ja ohnehin alles wie früher werden, nur besser. Hurra.
Liebe MilliadärInnen, Spenden sind immer toll, das seht außer Frage, ein seltsamer Beigeschmack bleib aber dennoch, es ist nämlich so: Seit Jahren rufen Menschen aus Fleisch und Blut, die eure Hilfe dringend benötigen, ohrenbetäubend laut nach euch. Und unser Planet! Quasi vergebens. Erst bei einem Gebäude aus Stein(!), hört ihr so richtig aufmerksam hin, werdet großmütig uns sanft. Nicht irgendwann, nein, ohne zu zögern. Nichts anderes haben wir erwartet, aber insgeheim gehofft.
Hier geht es tatsächlich längst nicht mehr um Whataboutsim. Sondern um Prioritäten und Verhältnisse. Die zum Glück nicht nur mir überaus fragwürdig vorkommen. An alle spendablen Kulturrrettenden: Natürlich habt ihr ein Dankeschön verdient. Aber ein nachgeschobener Denkanstoß darf dennoch nicht fehlen. Vielleicht war euer eigener Vorgarten nur der Anfang und irgendwann kehrt ihr auch dort den Dreck weg, wo nicht nur der Aussichtspunkt selbst, sondern eine komplette Aussicht in Trümmern liegt. Die Macht und das Geld dazu habt ihr ja.
*EDIT: Wir aber auch – sofern wir zusammenhalten. Vielleicht nicht binnen Stunden. Aber wenn auch wir unser eigenes Denken, Verhalten und Handeln häufiger (kritisch) hinterfragen, können wir womöglich nicht weniger viel bewirken.