Es ist 7:43 Uhr, ich sitze auf dem rauen Dielenboden unserer Wohnung und trinke einen Kaffee aus einer hübschen, dunkelgrauen Glastasse, die mir meine Freundin Anny zum Einzug überreicht hat. Ein bisschen über einen Monat wohne ich nun schon in Berlin, so richtig fest. Sogar meine alte Adresse, die auf meinem Personalausweis steht, wurde bereits mit einem Sticker überklebt. Und das, obwohl mich alle davor warnten, bei den Berliner Behörden mehrere Monate auf einen Termin warten zu müssen. Überhaupt wurde ich ganz oft gewarnt, vor den hohen Mieten, vor der Wohnungsnot, vor hippen Cafés, vor überteuerten Flohmärkten, Drogen, Kriminalität, Öko-Eltern, schnöseligen Schwaben und stickigen U-Bahnen.
Eine Wohnung haben mein Freund und ich mit viel Anstrengung und einer großen Portion Glück in einer ruhigen Ecke Schönebergs gefunden. Von Drogen, übermäßigem Alkoholkonsum oder gar Kriminalität keine Spur. Stattdessen ertönt lautes Vogelgezwitscher von den Bäumen, vor einer Eisdiele sitzen Familien und löffeln Eissorten wie Sahne-Mohn und Mango Lassi. Mit Einbruch der Dämmerung wird die Terrasse der Pizzeria um die Ecke durch eine kleine Lichterkette in schummriges Licht getaucht. Man trinkt ein Glas Rotwein und unterhält sich leise, um die Ruhe der idyllischen Straßen nicht zu stören. Ja, idyllisch ist es hier allemal, dabei ist es zuweilen so still, dass ich manchmal einen Moment innehalte und mich frage, ob ich denn überhaupt wirklich in Berlin gelandet bin.
Es ist nicht das erste Mal, dass ich für längere Zeit in der Hauptstadt bin. In den vergangenen zwei Jahren habe ich durch Praktika bereits acht Monate hier verbracht. Beide Male wohnte ich nahe des Leopoldplatzes im Wedding, umgeben von einer vermüllten Parkanlage, der lauten Müllerstraße, Wettbüros, Alkoholikern, Proleten, lauten Streitereien zwischen Betrunkenen, einer Reihe von Spätis und vereinzelten Cafés, die in Kreuzberg und Neukölln wohl keine freien Räumlichkeiten mehr gefunden haben. Täglich fuhr ich mit der stets überfüllten U-Bahn-Linie U6 nach Mitte. Morgens quetschten sich bunt durchmischte Gruppen in die Abteile, abends war die Bahn voller Touristen und Straßenmusikanten, die in Begleitung ihres Gettoblasters auf einer Geige das immer gleiche Lied spielten.
Früher, da habe ich all das gehasst. Jetzt fehlt es mir ein wenig. Ich bin im Spießertum angekommen. In einem Berlin, von dem ich nicht einmal wusste, dass es überhaupt existiert. Hier gibt es keine Wettbüros oder lauten Verkehr, nicht einmal hippe Cafés oder überteuerte Flohmärkte gibt es. Bis zum nächsten Späti muss ich fast 15 Minuten laufen, wenn es schneller gehen soll, muss ich mich sogar in den Bus setzen, der alle zehn Minuten fährt. Der nächste Edeka hatte bis vor Kurzem nur bis 20:00 Uhr geöffnet und ließ mich schmerzlich vom Späti meines Vertrauens im Wedding träumen.
Manchmal da glaube ich, ich könnte zwischen all der Ruhe und dem Vogelgezwitscher verrückt werden, wären da nicht unsere direkten Nachbarn, die ich schon jetzt von Herzen gerne mag. Der Großteil von ihnen wohnt bereits seit vielen Jahren im Haus, es sind lustige und einfache Leute, mit denen man gerne mal im Treppenhaus plaudert und gemeinsam lacht. Mein Freund und ich gehören zu den jüngsten Bewohnern und ehrlicherweise ist mir das ganz recht – zumindest, wenn ich beim Einkaufen auf all die Pärchen in unserem Alter treffe, die in der einen Hand eine Packung Lachs, in der anderen Hand eine Flasche Sekt halten und es bisher nicht ein einziges Mal geschafft haben, ein Lächeln zu erwidern. Ab und zu schieben sie hübsche Kinderwägen durch die schönen Straßen, während ihre perfekt geföhnten Haare auf und ab wippen. In solchen Momenten fühle ich mich oftmals ein wenig fehl am Platz und schäme mich sogar etwas dafür, dass ich gerade noch im uralten Sweatshirt, das ein unübersehbares Loch am Ärmel hat, und nassen Haaren einkaufen gegangen bin.
Hätte mir vor einigen Wochen noch jemand gesagt, dass ich mir einmal über solch triviale Probleme den Kopf zerbrechen würde, hätte ich wohl ungläubig abgewunken, mag ich Berlin doch vor allem wegen seiner enormen Toleranz und dieser offenen „sei doch, wer du sein willst“-Kultur. Vor diesem Berlin, in dem ich jetzt wohne, aber hat mich niemand gewarnt. Keiner sagte mir, dass es in der Hauptstadt sehr wohl auch Orte gibt, in denen Jogginghosen kritisch beäugt werden, 30-Jährige mit verkniffenem Blick Sekt und Lachs für den Samstagsbrunch kaufen gehen und gestriegelte Kinderwagen durch die Straßen schieben.
Und so denke ich Tag für Tag darüber nach, schaue vielleicht sogar ein bisschen grimmig drein, während ich durch die S-Bahn-Unterführung laufe, in der regelmäßig ein schick angezogener, junger Typ mit einem Cello steht und musiziert – ganz ohne Begleitmusik, die aus einem Gettoblaster ertönt. Wenn er da ist, laufe ich absichtlich ein bisschen langsamer, weil es ja doch irgendwie ein bisschen romantisch ist. In solchen Momenten nehme ich die Menschen um mich herum wahr, sehe die Männer, die hektisch ihre Aktenkoffer schwingen und die Frauen, die sich kurz über den perfekt gesteckten Dutt fahren. Nein, ich mag mich wahrlich nicht mit dieser für mich neuen Berliner Spießigkeit anfreunden, ein bisschen muss ich mir aber wohl selbst eingestehen, dass sie nun einmal dazugehört, auch wenn es mir schwerfällt. Doch immerhin wäre Berlin letztlich ja auch kein Platz für alle, wenn es zwischen Freidenkern, hippen Künstlern, Proleten und Verlorenen nicht auch ein paar kleinbürgerliche Spießer geben würde.