Es ist mir wahrscheinlich noch nie passiert, dass ich angefangen habe zu schreiben, ohne zu wissen, worauf ich denn überhaupt hinaus will. Gut möglich, dass es derzeit aber genau darum geht: Ums Nicht-Wissen. Oder vielleicht ums Vertun? Seit ein paar Wochen geht das schon so. Brauche ich mehr Meditation oder eine Therapeutin? Einen eigenen Komposthaufen? Eine Rentenversicherung oder Fonds? Will ich drei Kinder oder überhaupt kein weiteres mehr? Und was, wenn ein guter Freund, beschwipst von zu viel Supermarktwein, ganz unbedarft in sexistischen Äußerungen ersäuft? Sauer werden oder Contenance bewahren? Schreien oder erklären? Alles, beides, nichts. Immer abwechselnd.
In einem kurzen Anflug von Nostalgie (ich hatte gerade festgestellt, dass „Americana“ von The Offspring 20 Jahre alt ist), kramte ich dieser Tage schließlich eines meiner ersten schwarzen Notizbücher heraus – um zu ergründen, ob mein Hirn schon damals so Banane gewesen ist wie heute.
„Er haderte mit sich, bis er sich schließlich sagte, es sei eigentlich ganz normal, daß er nicht wisse, was er wolle. Man kann nie wissen, was man wollen soll, weil man nur ein Leben hat, das man weder mit früheren Leben vergleichen noch in späteren korrigieren kann. – Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, stand da geschrieben. Also: Jein.
Inzwischen weiß ich zum Beispiel, dass obiges Zitat überaus bekannt ist und das nur deshalb, weil ich vermutlich gar nicht verwirrter bin als andere und auch nicht so besonders, wie ich als Ersti erstmal annahm. Vor zehn Jahren hätte mich diese Erkenntnis bestimmt gejuckt. Heute macht sie mich ganz selig. Es ist ja doch sehr angenehm, nicht allein, sondern gemeinsam ratlos zu sein.
Natürlich versuche ich mir trotzdem auszumalen, wie es wäre, mehr zu wissen und gleichzeitig etwas weniger nachzudenken. Letzteres lasse ich momentan ohnehin gern mal sein, wo wir wieder beim Vertun angelangt wären: Da schrieb ich dieser Tage doch tatsächlich einen wutentbrannten Text über den Alabama Abortion Ban und faselte etwas davon, dass 25 Männer damit über die Körper tausender Frauen bestimmen würden – ich tat das, wohlbemerkt, am Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie bzw. -feindlichkeit. Alles ist mir da aus dem Gesicht gefallen, als der Groschen der Vielfalt endlich fiel, das könnt ihr mir glauben. Mitten in die Scheiße greifen erdet immerhin – dachte ich, als ich kapierte, dass in Wahrheit alle Menschen betroffen sind, die schwanger werden können. Mir wäre dieser Schnitzer gern egal, weil ich lieber Fehler mache und dazulerne, als dumm zu bleiben. Ist er aber nicht, gar nicht. Nur wie sieht jetzt die Lösung aus? Präventiv stumm bleiben ist ja keine Alternative – passiert nämlich sowieso schon viel zu oft.
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Sogar im Privaten, wie mir jüngst dieser zuweilen in sexistische Muster verfallende Freund von weiter oben steckte. Der übrigens nicht verstehen wollte, weshalb es ihn wirklich einen feuchten Furz angeht, aus welchen Gründen die Frau im vorletzten Tatort „denn nun ausgerechnet im Minirock zur Aussage über die eigene Vergewaltigung antanzte“.
Er traue sich immer seltener, offen über Politik zu sprechen oder über Feminismus, je nach Thema, weil er permanent Panik davor habe, etwas „Falsches“ sagen zu können. Irgendwas Unüberlegtes, wofür ich ihm dann sicher binnen Sekunden die Rübe anhauen wollen würde. Komisch, dachte ich da noch grübelnd. Es ist ja schließlich nicht so, als sei ich überhaupt je gewalttätig geworden.
Ganz im Gegenteil. Ich bin mittlerweile sogar selbst ganz kurz davor, künftig die Klappe zu halten – bevor jemand auf die Idee kommt, mir was ganz anderes abzuhauen. Etwa weil ich es für mindestens okay halte, „Fuck you“ zu Leuten zu sagen, die auch nach eingängigster Erklärung nicht kapieren, weshalb „Angry Feminist“ noch immer kein akzeptables Schimpfwort ist. Genau so wenig wie „Fotze“. Und deshalb beide munter weiter benutzen.
Plötzlich verstehe ich also ganz reell und nicht bloß rein theoretisch, was da gerade womöglich jeden Tag im Kleinen wie im Großen passiert: Manche (oder viele?) von denen, die eigentlich auf der guten Seite stehen, verstummen – aus Sorge vor (verbalen) Fehltritten. Weil es immer jemanden gibt, der „noch linker“, „noch bewusster“, „noch engagierter“ und „noch feministischer“ lebt. Oder spricht. Zusammengefasst ist dieser Umstand eine ziemlich riesengroße Scheiße. Weil eigentlich alle, die wirklich nichts als Brei reden, damit jedes Mal noch mehr Redezeit zugeschustert bekommen. Gratis. Und immer lauter werden. Nazis zum Beispiel.
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Nazi – darf ich das überhaupt sagen, wenn ich die AfD und ihre Anhänger*innen meine? Nee, meinen die meisten Medien: Diese armen Menschen seien ja bloß besorgt und Verallgemeinerungen brächten so kurz vor der Wahl nun wirklich niemanden weiter. Ja, doch. Ist doch eigentlich auch ganz leicht: Wer kein Nazi sein will, darf eben keine Nazis wählen. Wo wir übrigens am 26. Mai unsere Kreuzchen machen werden, das ist nochmal ein ganz anderes Thema. Eins mit „Tabu“ davor. Meine Eltern jedenfalls haben mir beigebracht, lieber nicht allen zu verraten, dass ich mit großer Wahrscheinlichkeit entweder DIE PARTEI, Die Linke, oder VOLT wählen werde. Alles andere kann ich selbst mit großer Mühe nicht Ernst nehmen oder richtig hilfreich finden, obwohl ein paar Prozent mehr violette Spiritualität im Bundestag sicher niemandem schadeten. So ein bisschen Erleuchtung würde ich sogar dem Gauland gönnen. Oder dem Amthor. Oder Jens Spahn. Oder Annegret Kramp-Karrenbauer. Oder Seehofer, Kretschmer und dem Palmer.
Ach, das ist ein Fass ohne Boden. Und in Wahrheit weiß ich auch diesbezüglich langsam nicht mehr weiter, ich habe sogar Angst, mich zu vertun – deshalb gewöhne ich mir nun an, ab sofort wieder viel mehr Fragen zu stellen. Warum, wieso, weshalb, immerzu – gegen die geistige Faulheit und das Resignieren.
Und so hadere ich nicht mehr, weil ich schließlich kapiere, dass es eigentlich ganz normal ist, nicht alles zu wissen und auch nicht, was man selbst für immer will. Ist nicht schlimm. Weil schon morgen nicht mehr heute ist und vielleicht alles ganz anders, aber auch, weil man einfach fragen kann. Etwas nicht zu wissen, heißt doch vor allem, vieles lernen zu können. Und noch all die wunderbaren Möglichkeiten zu haben, denen andere mit ihren Entscheidungen längst den Garaus gemacht haben. Was für ein Geschenk. Jetzt müssen wir es nur noch annehmen.