Keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber: Der Juni ist fast vorbei. Und ich kann ehrlich nicht sagen, was ich eigentlich die ganze Zeit gemacht habe. Viel gelesen, auf jeden Fall, und viel im Park rumgehangen. Denn nach einigen – arbeitstechnisch – intensiven Monaten hatte ich im Juni endlich mal wieder Zeit für mich. Zeit, die Gedanken schweifen zu lassen, Zeit, zukünftige Projekte zu planen, Zeit, die Nase in ein Buch zu stecken und erst zwei Stunden später wieder daraus aufzutauchen. Hier sind ein paar der Dinge, mit denen ich gerade meine Zeit verbringe: Zwei Bücher, die mich begeistert, unterhalten und ja, ein bisschen schlauer gemacht haben.
Elif Shafak: Unerhörte Stimmen
Schon ewig wollte ich etwas von Elif Shafak lesen – ein Vorhaben, das durch meinen Türkei-Besuch letztes Jahr bestärkt wurde. Aber dann stapelten sich eben doch zahlreiche andere Bücher auf dem Nachttisch, kaufte ich mal hier, mal da eins dazu… Shafak war nie dabei. Gut, dass mir eine Mitarbeiterin meines Verlags letzte Woche auf meine Frage hin, was man denn gerade unbedingt lesen müsse, Shafaks neues Buch Unerhörte Stimmen in die Hand drückte. Darin erzählt die türkische Schriftstellerin die Geschichte der Prostituierten Leila, die Anfang der 1990er Jahre in Istanbul ermordet und in eine Mülltonne geworfen wird. Leilas Gehirn arbeitet auch nach ihrem unfreiwilligen Ableben weiter, genau 10 Minuten und 38 Sekunden nämlich, und so lässt sie ihr Leben Revue passieren und fragt sich: Wie konnte es so weit kommen?
„Drei Minuten, nachdem ihr Herzschlag ausgesetzt hatte, erinnerte sich Leila an den Geschmack von starkem, schwarzem Kardamomkaffee, den sie für alle Zeiten mit der Straße der Bordelle verband. Seltsam, dass ihr der Gedanke gleich nach den Erinnerungen an die Kindheit kam. Doch das menschliche Gedächtnis war nun einmal wie ein Nachtschwärmer, der zu tief ins Glas geschaut hatte. Auch mit größter Anstrengung konnte es nicht gerade gehen, sondern torkelte, oft im Zickzack, durch ein kompliziertes Labyrinth, ohne jede Vernunft und stets kurz vor dem Zusammenbruch.“
Shafak begleitet Leila von Geburt an, als sie 1947 als Tochter zweiter Mütter und eines fanatisch-religiösen Vaters in einem türkischen Dorf zur Welt kommt. Später zieht es die rebellische Leila nach Istanbul, wo sie als Prostituierte in Bordellen arbeitet und am Rande der Gesellschaft lebt. Sie findet Freund*innen – jede*r von ihnen auf jeweils individuelle Art eine*e Außenseiter*in – liebt, lebt und sucht nach dem, was sich Glück nennt. Anders, als es das Thema vermuten ließe, ist Unerhörte Stimmen gar nicht schwer oder tragisch. Weil Leila kein Opfer ist, kein Opfer sein will, und Shafaks Sprache so leicht und spielerisch, der Ton so voller Wärme und Humor, so sinnlich ist. Unerhörte Stimmen spielt nicht in der Jetzt-Zeit, sondern endet 1990 – trotzdem liest sich das Buch sehr aktuell und man versteht nach der Lektüre die Türkei, dieses wunderschöne, schwierige und widersprüchliche Land, ein klein wenig besser.
Candice Carty-Williams: Queenie
Hatte ich bei Elif Shafak damit gerechnet, eine schwere, tragische Geschichte zu lesen, und wurde stattdessen mit zarter Prosa überrascht, so verhielt es sich bei Queenie genau andersherum: Erwartet hatte ich eine unterhaltsame Geschichte, was ich bekam, war sehr viel tiefgründiger, als ich gedacht hatte. Queenie ist Candice Carty-Williams‘ Debütroman und erzählt von Queenie, Mitte 20, Londonerin, Redakteurin, die gerade von ihrem Freund verlassen wurde. Beziehungsweise machen die beiden eine „Pause“ – Queenie rechnet fest damit, dass Tom zu ihr zurückkommen wird. Während sie darauf wartet, beschließt Queenie, es doch mal mit Dating zu versuchen.
„I have so much discipline when I’m not worrying about men, I thought to myself as my phone pinged.”
Was als lustige, manchmal skurrile Geschichte beginnt, erweist sich bald als gar nicht mehr so lustig. Queenie muss erleben, wie ihr Körper, der Körper einer schwarzen Frau, immer und immer wieder von Männern objektifiziert und benutzt wird. Sie muss sich ihren eigenen Dämonen stellen, ihre sich unverblümt in ihr Leben einmischende Familie in Schach halten und vor allem: sich fragen, was sie wirklich will. Der Charakter der Queenie ist eine Wucht: kompliziert, liebenswert und sowohl selbstbewusst als auch verletzlich. Manchmal lustig, oft unfreiwillig komisch. Mit großer Klappe, aber geringem Selbstwertgefühl. Carty-Williams schafft es, eine Menge Themen unterzubringen, von #BlackLivesMatter über geistige Gesundheit bis hin zu Sexualität und Liebe. Und das wirkt gar nicht konstruiert, sondern völlig natürlich. Wie Queenie selbst.
„‘What’s the girlfriend drop?‘
Darcy always needed to be clued in on these things.
‘It’s when a guy, even if he’s the one who approached you to, say, ask what the time is, needs you to know that he’s attached’, Cassandra explained, rolling her eyes. ‘Like last week, I was in a café, and there was a guy at the table next to mine who had a smear of ketchup on his face. I was so distracted by it that I kept looking over and starring, wondering how acceptable it was to go and wipe it off. He eventually turned to me and said: ‘Cool laptop. My girlfriend has the same one.’ It’s their way of telling themselves that a) they’re irresistible to women, and b) they’re in control of all their interactions.’”