Am 25. Juni 1978 wurden in San Francisco zwei riesige Regenbogenfahnen gehisst. Wochenlang hatte sich ihr Urheber Gilbert Baker – seines Zeichens Kriegsveteran, Drag-Queen und Künstler – mit anderen Homosexuellen-Rechtlern zusammengefunden, um die Stoffbahnen zu färben und zusammenzunähen. Inspiriert von der amerikanischen Flagge und der Vielfalt des Regenbogens, war es Bakers Vision, ein Symbol zu schaffen, das jederzeit und überall sofort erkannt wird und so die Anliegen homosexueller Menschen in die Welt tragen kann. Dabei trug er auch die Botschaft seines Freundes, des offenherzigen schwulen Politikers Harvey Milk, weiter: Komm aus deinem Schneckenhaus, sei sichtbar und stolz darauf, wer du bist!
Wenn das Geheimnis guten Designs ist, dass es Raum und Zeit überdauert, dann ist Bakers Regenbogenflagge eines der besten. Im Jahr 2018, 40 Jahre nach ihrem ersten großen Auftritt, fungiert die Flagge in fast jedem Winkel der Welt noch immer als das Symbol für die LGBTQI+-Bewegung. Dustin Lance Black, der Oscar-prämierte Drehbuchautor von „Milk“ – dem Biopic über Harvey Milk mit Sean Penn in der Hauptrolle – lernte Baker im Zuge seiner Recherchen für den Film kennen. Er glaubt, dass die Flagge Hoffnung und Einheit suggeriert: „Sie war definitiv erbaulicher als das rosa Dreieck, ihr Vorgänger-Symbol, das von den Nazis erdacht wurde“, erklärt er. „Die Flagge sagt: Seid eure ganz eigene Farbe, was auch immer diese Farbe ist. Aber seid es gemeinsam.“
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Vor Bakers frühem Tod im Jahr 2017 erklärte der Künstler selbst, dass die Flagge ein Eigenleben entwickelt habe. Im Gespräch mit dem Museum of Modern Art (dem er die Flagge 2015 für seine Designabteilung vermachte) erzählte er, die Flagge bereits in verschiedensten Versionen und auf unzähligen Alltagsgegenständen gesehen zu haben. Und er ergänzte: „Nur noch nie auf einem wirklich überzeugenden, modischen Kleidungsstück.“ Ein Jahr später mag man sich fragen, ob Baker noch derselben Meinung wäre – in Anbetracht der Tatsache, dass die Laufstege für die Frühjahr/Sommer- und Herbst/Winter-Präsentationen für 2018 regelrecht überschwemmt waren von Regenbögen – einige mutig und auffällig, andere subtiler.
Cara Delevingne schritt im Februar dieses Jahres in einem bodenlangen Regenbogenmantel für Burberry über den Laufsteg. In seiner letzten Kollektion für die Marke kombinierte Christopher Bailey als direkte Anspielung auf Bakers Design den Regenbogen mit den klassischen Burberry-Karos. Und dann wären da noch Missonis seidene Regenbogenkleider für Frühjahr/Sommer 2018 (präsentiert von Kendall Jenner in einer Kampagne von Harley Weir) und Dolce & Gabbanas auffällige, bunte Kleider aus wallenden Stoffbahnen. Marco de Vincenzo zeigte für Herbst/Winter 2018 regenbogenfarbene Wollmäntel, Gigi Hadid präsentierte für Versace ein Regenbogen-Minikleid und Ashish begeisterte für Herbst/Winter 2018 mit einem schillernden Technicolor-Einteiler.
„Farben haben sich im Laufe der Geschichte immer wieder als Mittel der Selbstdarstellung und des friedlichen Protests erwiesen, in jüngster Vergangenheit war es aber vor allem der Regenbogen, der über die Laufstege zurück auf die Straße und in unser Bewusstsein gefunden hat“, erklärt Hannah Craggs, Redakteurin bei WGSN. Die Trendforschungs-Plattform prognostizierte die Wiederentdeckung des Regenbogens bereits vor etwa drei Jahren, im Zuge der Trendwende zum Maximalismus.
Craggs nennt Alessandro Michele (verantwortlich für Guccis farbenfrohen, exzentrischen und viel gepriesenen „Gucci-Effekt“) als einen der Vorreiter für das Phänomen, ebenso aufstrebende Designer wie Matty Bovan, Charles Jeffrey und Mary Benson, die bewiesen, dass sie „keine Angst vor Farben hatten“. Der Regenbogen ist darüber hinaus auch ein Zeichen der Zeit, fügt Craggs hinzu: „Angesichts der chaotischen politischen und sozialen Situation sind die Flucht vor der Realität und der spielerische Ausbruch nur eine logische Konsequenz. Nichts symbolisiert diesen Drang mehr als die Regenbogenfahne.“
Wie sehr die Kollektionen der Designer wirklich politisch motiviert sind, variiert jedoch. „Es gab noch nie eine Zeit, in der es wichtiger gewesen wäre, dafür einzustehen, dass die Vielfalt unsere Stärke und die Quelle unserer Kreativität ist“, erklärte Christopher Bailey gegenüber der Presse und unterstützte mit seiner Burberry-Kollektion deswegen Wohltätigkeitsorganisationen, die sich für die Umsetzung der Ideen der LGBTQI+-Bewegung einsetzen. Missoni wiederum bestreitet eine Verbindung zwischen seinen Entwürfen und der Szene. Dolce & Gabbana schreiben ihr Design ebenfalls nicht der LGBTQI+-Flagge und Bewegung zu, sondern den traditionellen Trachten beim italienischen Volkstanz Ballo della Cordella.
Die Tatsache, dass Marco de Vincenzo die Models seiner Herbst/Winter-Show 2018 mit seinen „Starry Bags“ mit roten Schleifen – dem Symbol der Aids-Bewegung schlechthin – über den Laufsteg schickte, könnte für manche der Beweis sein, dass seine Designs definitiv politisch aufgeladen sind. Aber de Vincenzo macht deutlich, dass der Regenbogen für ihn weit mehr Bedeutungen hat: „Ich bin besessen von Farben und Regenbögen. Ich beziehe mich damit nicht nur auf die sozialen Bewegungen rund um LGBTQI+, sondern sehe darin auch ein Symbol des Friedens. Und dann gibt es da auch noch das Album von Mariah Carey und den Kobold-Mythos, der besagt, dass man am Ende des Regenbogens immer einen Topf voll Gold findet.“
Für Versace ist die Bedeutung des Regenbogens ebenfalls vielschichtiger. Donatella Versace erklärt: „Inklusivität und Vielfalt sind etwas, wofür ich immer schon gekämpft und mich mit Versace eingesetzt habe.“ Und sie fügt hinzu: „Farbe ist Leben, und die Regenbogenfahne hat alle Farben. Ich hatte die Gelegenheit, mit einigen der größten Talente der Musik-, Film- und Modeindustrie zusammenzuarbeiten, und einige von ihnen gehören zur LGBTQI+-Community. Menschen mit Talenten, die diese Welt zu einem besseren Ort gemacht haben.“
Während Versace die Flagge als Emblem für Vielfalt sieht – eine Vorstellung, die sich auch im Model-Cast des Modehauses widerspiegelt – stimmt auch Craggs zu, dass es eine grundlegende Verbindung zwischen dem integrativen Ethos der Modeindustrie und dem umfassenden Ethos des Regenbogens gibt. Designer erweitern derzeit beispielsweise ihr Verständnis von „nude“ bzw. „hautfarben“, indem sie weit mehr verschiedene Hauttöne featuren. „Etablierte soziale Strukturen verschieben sich, und Stereotypen gelten schnell als veraltet“, stellt Craggs fest. „Bei der Entwicklung von Farbpaletten ist heute eine viel detailliertere Auseinandersetzung erforderlich.“
Mit der Verwendung von Regenbögen in Luxuskollektionen steigt unweigerlich auch das Risiko, etwas zu kommerzialisieren, was ursprünglich als „Fahne des Volkes“ gedacht war. In diesem Punkt weist Black allerdings auch darauf hin, dass der Regenbogen bereits seit Langem als Symbol kommerzialisiert ist: „Man konnte in den 1990ern in keine Bar gehen, ohne dass dort die Regenbogenflasche irgendeines Bierherstellers oder einer Spirituosenmarke gestanden hätte. Es ist ihre Art zu sagen: ‚Wir möchten, dass Sie sich willkommen fühlen, unser Produkt zu nutzen.'“ Aus diesem Grund würde der Drehbuchautor und LGBTQI+-Aktivist auch nie eine Marke verurteilen, die sich die Symbolik für ihre Zwecke zunutze macht. Applaus verdienen in seinen Augen dennoch nur die Unternehmen, die einen Schritt weitergehen und zusätzlich einen „Beitrag dazu leisten, die Ideen der Flagge in die Tat umzusetzen.“
Hätte Gilbert Baker, der die Regenbogenflagge ins Leben rief, ihre derzeitige Allgegenwärtigkeit gut gefunden? Black ist da optimistisch und erklärt, dass der Designer seine ursprüngliche, achtfarbige Version der Flagge damals sogar in eine sechsfarbige Version abgeändert habe (die, die wir heute kennen) – nur damit sie billiger zu drucken war und eine breitere Masse erreichen konnte. „Gilbert hat sie zwar zum Leben erweckt, sie aber niemals als sein Design beansprucht, geschweige denn sich das Urheberrecht zu eigen gemacht, was eine der bewegendsten Entscheidungen ist, die ich jemals bei einem Designer gesehen habe“, antwortet Black voller Leidenschaft. „Als er sah, dass andere Menschen sie adaptierten und abänderten, um sie den vielen Facetten der Bewegung anzupassen, war er darüber nicht erbost oder irritiert. Er sagte immer: ‚Macht euer Ding damit!'“
Laut Craggs wird sich der Regenbogen in seiner Omnipräsenz noch eine Weile halten, eingebettet in die Bewegung des Maximalismus, die uns in Sachen Design voraussichtlich noch bis 2020 begleiten wird. „Design-Strategien werden sich zusehends neuen Ebenen und Farbtönen widmen, die den unterschiedlichsten Hautfarben, Altersklassen und Geschlechtern schmeicheln“, fügt sie hinzu. In einer Welt, in der die Menschen immer mehr nach Wahrheit und Transparenz verlangen, wird sich der Drang, gehört und gesehen zu werden und Einfluss zu nehmen, nur verstärken, prognostiziert sie. „Tastemaker, InfluencerInnen, DesignerInnen und Marken sind die Speerspitze einer neuen Bewegung, die besagt, dass es in Ordnung ist, anders zu sein.“
Können Kleider also wirklich etwas bewirken, wenn es darum geht, Inklusivität zu schaffen? Während einige DesignerInnen das politische Erbe der Flagge herunterspielen mögen, betont Black, dass die derzeitige Omnipräsenz der Flagge auf den Laufstegen – unabhängig von der Intention – ihren Zweck, Dinge zum Positiven zu wenden, nicht verfehlen wird. „Wir können Kleidung als reine Zweckmäßigkeit sehen, um uns warm zu halten – aber was für eine langweilige Welt wäre das“, lacht er. „Der Regenbogen wurde als Symbol für Stolz, Widerspruch und Durchsetzungsvermögen geschaffen. Die Tatsache, dass heute so viele Menschen den Regenbogen tragen, zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Dabei sind unsere Kleidungsstücke selbst Fahnen – sie sagen immer etwas über uns aus.“
Dieser Text von Amelia Abraham stammt aus unserer VOGUE COMMUNITY.
Bilder in der Collage via Vogue Runway (Burberry Fall 2018)