Am Anfang stand Simone de Beauvoir. Mit knapp 18 begann ich, ihre Briefe an Jean-Paul Sartre und das Kriegstagebuch zu lesen. Was mir sofort ins Auge sprang, waren die detaillierten Beschreibungen von Beauvoirs Tagesablauf: Aufstehen zwischen acht und neun Uhr, dann Kaffee und Zeitungslektüre im Café, Arbeitsbeginn gegen zehn, Mittagessen alleine oder mit Bekannten, danach wieder Arbeit bis abends, Abendessen alleine oder mit Bekannten, danach Besuch in einer Bar, im Theater, im Kino, oder Musik und Whisky in Beauvoirs Hotelzimmer. Im Kriegstagebuch klingt ein typischer Oktobertag 1939 so:
„Ich bin gegen 9 Uhr aufgestanden, ich habe am Tresen des Dôme Kaffee getrunken und die N.R.F. (Nouvelle Revue Française, Anm.) gekauft […]. Ich arbeite zwei Stunden lang gut. Ich lege einen großen Korrekturplan für die ersten Kapitel an, und einen großen Plan für das ganze Ende. Ich stelle Bücherlisten zusammen und fühle mich ganz eifrig und aktiv. Ich schreibe an Sartre […]. Mittagessen bei Pagès, dann wieder Arbeit, ich fange an zu schreiben und bin schnell wieder drin.“
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Eifrig und aktiv – so fühlte auch ich mich beim Lesen dieser Zeilen. Oder zumindest weckte das Geschriebene in mir den dringenden Wunsch, eifrig und aktiv zu werden. Noch heute greife ich bei Motivationsproblemen zu Beauvoirs Briefen an Sartre, zu ihrem Kriegstagebuch: Die detaillierten Beschreibungen der so effizient mit Arbeit ausgefüllten Tage schaffen es zuverlässig, mir ein schlechtes Gewissen zu machen und meine Motivationslosigkeit zu verscheuchen.
Die Suche nach menschlichen Vorlagen und Schablonen
Beauvoir war die Erste, deren Tagesablauf mich interessierte und inspirierte – sie ist aber nicht die Einzige geblieben. In den letzten Jahren habe ich darüber gelesen, wie berühmte Schauspielerinnen oder Autorinnen ihre Tage gestalten, was sie zum Frühstück essen und wie sie es schaffen, Kinder und Karriere miteinander zu vereinbaren. Das Internet bietet unendliche Möglichkeiten, etwas über die täglichen Gewohnheiten und Routinen verschiedenster Menschen zu erfahren.
Ein paar Beispiele: Auf Into the Gloss geben (mehr oder weniger) berühmte Menschen Einblicke in ihren Kosmetikschrank. In der Rubrik How I get it done des Magazins The Cut erzählen Frauen mit anspruchsvollen Jobs (darunter Bestseller-Autorin Elizabeth Gilbert oder Schauspielerin Aidy Bryant), wie sie arbeiten, entspannen und vor allem, wie sie das alles unter einen Hut bekommen. Der Guardian hat vor kurzem das Format Sunday with… eingeführt, das verschiedene Persönlichkeiten danach fragt, wie sie ihren Sonntag verbringen. Andere Formate widmen sich den Tagesabläufen von Schriftsteller*innen, den Ernährungsgewohnheiten Prominenter oder den Finanzen ganz „normaler“ Menschen.
Scheinbar gibt es ein unersättliches Interesse daran, wie andere Menschen ihr Leben leben. Das hat – wahrscheinlich – mit einer gewissen Art des Voyeurismus zu tun und ist an sich nichts Neues: Schon seit Jahrtausenden lesen Menschen die Bibel oder den Koran, lassen sich von der Lebensweise Jesus‘ oder Mohammeds inspirieren. Ende des 18. Jahrhunderts waren Schiller und Goethe die großen Vorbilder für jede*n, der von einer Schriftsteller*innen-Karriere träumte. Und weibliche Fans von Kaiserin Sisi dürften im 19. Jahrhundert nicht nur ihre Wespentaille bewundert, sondern sich auch gefragt haben, wie das Ernährungsregime aussah, das diese Taille ermöglichte. Allerdings: Damals gab es noch kein Internet, keine sozialen Medien.
Anders gesagt: Jesus hatte keinen Instagram-Account. Heute trifft die ständige Verfügbarkeit von und der Zugang zu Details aus dem Leben anderer Menschen (ob prominent oder nicht) auf einen allgegenwärtigen Selbstoptimierungsdrang: Wir schauen uns die Gewohnheiten und Routinen berühmter, erfolgreicher Menschen an, in der Hoffnung, diese auf unser eigenes Leben übertragen zu können und dann vielleicht ein bisschen besser, schöner, erfolgreicher zu werden. Wir suchen nach menschlichen Vorlagen und Schablonen, nach denen wir uns selbst, unser Leben, gestalten.
Kein Wunder, dass das Buch Daily Rituals. How Artists Work von Mason Currey (auf Deutsch: Musenküsse. Die täglichen Rituale berühmter Künstler, erschienen bei Kein & Aber) nach seiner Veröffentlichung 2013 direkt zum Bestseller avancierte. Wie schon auf dem gleichnamigen Blog versammelt Daily Rituals ein kuratiertes Sammelsurium von Künstler*innen und ihren Tagesabläufen, zusammengestellt aus Briefen, Tagebüchern, Interviews. So lernen Leser*innen in häppchengroßen Anekdoten, dass Gustave Flaubert seinen Morgen im Bett verbrachte. Benjamin Franklin erarbeitete einen ambitionierten 13-Wochen-Plan, um „moralische Perfektion“ zu erreichen und war täglich damit beschäftigt, diesen Plan in Gewohnheiten zu überführen und umzusetzen. Sören Kierkegaard bestand auf regelmäßigen, langen Spaziergängen und Energiezufuhr in Form von Kaffee und Sherry. Und natürlich ist auch Simone de Beauvoir dabei, mit ihrem rigoros organisierten Arbeitsalltag.
Weibliche Unterstützung
Tatsächlich ist Beauvoir nur eine von wenigen Frauen in Curreys Buch: Gerade einmal 27 der 161 porträtierten Künstler*innen sind weiblich. Ein Makel, den Currey mit seinem neuen, im März 2019 erschienenen Buch Daily Rituals. Women at Work korrigieren möchte. Im Vorwort thematisiert er das „unübersehbare Geschlechter-Ungleichgewicht“ seines ersten Buches. Dadurch, dass er sich auf die größten und bekanntesten Denker*innen und Künstler*innen der westlichen Kultur konzentriert habe, so Currey, sei der „Nebeneffekt“ gewesen, dass diese Personen fast ausschließlich Männer waren.
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Currey, könnte man sagen, ist auf ganz typische Art und Weise an die Recherche gegangen. Er hat nicht danach gefragt, warum Genie fast ausschließlich – und immer noch – in männlicher Form erscheint. Er hat wahrscheinlich darüber geschmunzelt, dass Sigmund Freud sich von seiner Frau Martha den kompletten Alltag organisieren und sogar die Zahnpasta auf die Zahnbürste drücken ließ. Oder darüber, dass Gustave Flaubert erst gegen zehn Uhr aufwachte und ein anschließendes Glockenklingeln dem Rest der Familie als Signal dafür diente, dass nun leise Unterhaltungen geführt werden konnten – hatte Flaubert (immer noch im Bett) Briefe gelesen, Wasser getrunken und Pfeife geraucht, forderte er mit einem Klopfen gegen die Wand seine Mutter auf, das Zimmer zu betreten und ihm Gesellschaft zu leisten.
Die großen Denker der westlichen Kultur, so scheint es, wären ohne weibliche Unterstützung – von Ehefrauen, Müttern, Angestellten – oftmals überhaupt nicht in der Lage gewesen, ihrer kreativen Arbeit nachzugehen. Ihre Rituale, auf denen sie bestanden, wurden durch Frauen ermöglicht. Dass Frauen damals wie heute kaum den gleichen Luxus haben, sich ausschließlich und egoistisch auf ihre kreativen Bestrebungen zu konzentrieren, versteht sich von selbst. 90 Jahre ist es her, dass Virginia Woolf ein „eigenes Zimmer“ für Frauen forderte, in dem diese schreiben, denken, kreativ sein können. Die Realität sah und sieht oft anders aus: Jane Austen schrieb ihre Romane im lauten Wohnzimmer, umgeben von Familienmitgliedern, Ablenkungen und Störungen. Die vor kurzem verstorbene Toni Morrison schrieb ihren Debütroman The Bluest Eye als vollzeitberufstätige und alleinerziehende Mutter zweier Kinder – sie stand jeden Morgen um 4 Uhr auf, um an dem Buch zu arbeiten. Roxane Gay sagt über Morrison, diese habe in „gestohlenen Momenten“ geschrieben. Und Beauvoir? Die konnte so leben und arbeiten, wie sie es tat, weil sie bewusst auf Familie, Ehe und den damit verbundenen Haushalt verzichtete.
Gewohnheiten werden zu heiligen Ritualen
Individuelle Lebensumstände, die Privilegien und Entscheidungen, die diese ermöglichen, geraten bei der kollektiven Besessenheit mit den täglichen Gewohnheiten anderer Menschen schnell aus dem Fokus. Kein Wunder, schließlich möchten wir so gerne an das Versprechen glauben, dass uns in Form von Büchern wie Daily Rituals oder Formaten wie How I write gemacht wird: Jede*r hat das Potenzial, sich zu verbessern. Jede*r kann Erfolg haben, es gilt nur, die richtigen Rituale und Gewohnheiten zu kultivieren.
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Wenn ich die gleiche 25-Schritte-Beauty-Routine absolviere wie Liv Tyler, dann sehe ich vielleicht ein bisschen so aus wie sie. Wenn ich zum Arbeiten in ein Café gehe, dann schreibe ich vielleicht ähnlich gut wie Simone de Beauvoir. Wenn ich jeden Morgen gegen vier Uhr aufstehe und mich circa eine Stunde lang auf meine persönliche Entwicklung konzentriere (Meditieren, Visualisieren, Lesen, usw.), dann wird aus mir eventuell ein supererfolgreicher #girlboss. Ich kann – wenn ich nur jede Minute des Tages sinnvoll nutze.
Höher, besser, schneller weiter. Es gibt nahezu unendliche Möglichkeiten, den eigenen Tagesablauf zu optimieren (Hashtag #lifehack). Sich mit anderen zu vergleichen und zu schauen, inwiefern ihr Leben besser, optimaler ist als das eigene. Sich darauf zu konzentrieren, wie man am besten etwas tut – statt es einfach zu tun.
Gewohnheiten werden zu heiligen Ritualen erhoben und sichern so nicht unbedingt Freiheiten und Räume für die (kreative) Arbeit, sondern schaffen neue Zwänge und To-Do-Listen, die abgehakt werden müssen, damit mit der eigentlichen Arbeit begonnen werden kann. Als seien die mit der Arbeit verbundenen Rituale wichtiger als die Arbeit selbst. Seine Arbeit so angehen zu können, das muss man sich erstmal leisten können.
Natürlich sind Rituale und Gewohnheiten nicht per se etwas Negatives. Das sind sie nur, wenn sie fetischisiert werden und einzig und allein dem Zweck dienen, sich und sein Leben immer weiter zu verbessern. Noch mehr mehr mehr und effektiver arbeiten zu können. Daran denke ich, wenn ich Simone de Beauvoirs detaillierte Beschreibungen ihres Tagesablaufs lese. Die Beschreibungen motivieren mich, ja, aber mein Leben würde nicht besser und produktiver, wenn ich versuchte, das beauvoirsche Modell eins zu eins auf meinen Alltag zu übertragen. Die Wahrheit ist: Ich stehe gerne früh auf, nicht erst gegen acht oder neun, und arbeite am liebsten zu Hause am Schreibtisch, nicht im Café (wobei Beauvoir später den Cafétisch ebenfalls gegen einen Schreibtisch eintauschte). Beauvoir schreibt im September 1939: „Ich bin jetzt in diesem Leben eingerichtet“. Sie meint den Krieg. Aber vielleicht geht es bei unserer Besessenheit mit den Lebensgewohnheiten anderer tatsächlich darum: sich im eigenen Leben einzurichten. Statt in einem, dass aus den Elementen anderer Leben besteht, aus anderer Leute Gewohnheiten.