Sonntagabend. In Sachsen und Brandenburg wurde gewählt und als ich um 18 Uhr den Fernseher einschaltete, bot sich ein nicht unerwartetes Bild: SPD und CDU verlieren, die Linke auch, die Grünen gewinnen dazu, die FDP schafft es nicht über die Fünf-Prozent-Hürde. Große Siegerin der Wahl ist die AfD: 27,5 Prozent in Sachsen, 23,5 Prozent in Brandenburg. Das reicht nicht, um in einem der beiden Länder stärkste Kraft zu werden – aber nur so gerade eben. Und: In Sachsen haben viele junge Menschen für die AfD gestimmt, nicht nur ältere, weiße Männer, so wie es das Klischee doch eigentlich will.
Ich schaute mir all das an, hörte zu, wie Journalist*innen der Öffentlich-Rechtlichen den AfD-Sprech und die damit einhergehende Inszenierung als „bürgerliche Partei“ nicht nur akzeptierten, sondern auch übernahmen. Ich verschickte ein paar empörte Nachrichten an Familienmitglieder und Freund*innen. Doch die Empörung, die aus diesen Nachrichten sprach, spürte ich gar nicht. Stattdessen: Leere, Erschöpfung, Müdigkeit. In den letzten Monaten, Jahren, ist mit mir etwas passiert, von dem ich nie gedacht hätte, dass es möglich ist: Ich bin gleichgültig geworden.
Schleichende Abgestumpftheit
Oder vielleicht nicht gleichgültig. Ich bin immer noch interessiert an Menschen, Nachrichten, daran, was in der Welt geschieht. Vielleicht bin ich nicht gleichgültig, sondern schlicht abgestumpft. Ich konsumiere Nachrichten so wie früher, ich nehme nicht weniger an der Welt teil. Aber die Nachrichten, die Welt, haben sich verändert. Sie haben mich verändert. Sie erreichen mich nicht mehr auf die gleiche Weise. Ich fühle mich weniger berührt, weniger betroffen. Ich registriere diese zunehmende, schleichende Abgestumpftheit – bei mir selber, bei anderen – und denke: Aber müsste ich nicht gerade jetzt empört sein? Wütend? In irgendeiner Art betroffen? Wann, wenn nicht jetzt?
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In der Amazonas-Region brennt der Regenwald – der brasilianische ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro aber torpediert internationale Hilfsbemühungen und behauptet zudem, Nichtregierungsorganisationen seien für die Feuer verantwortlich. In Hongkong werden Aktivist*innen, die für mehr Demokratie kämpfen, festgenommen und mit Wasserwerfern und Tränengas angegriffen. In den USA setzt Donald Trump immer und immer wieder einen drauf. Familien, die illegal die amerikanische Grenze überqueren wollen, werden brutal auseinandergerissen, die Kinder in Käfigen eingesperrt. Ankündigungen, Grönland – ein autonomer Bestandteil des dänischen Königreichs – zu kaufen, entpuppen sich als ernstgemeintes Vorhaben und nicht als – wie anfangs vermutet – schlechter Witz.
Und in Deutschland? Da wird CDU-Politiker Walter Lübcke Opfer eines, so wie es aussieht, rechtsextremistisch motivierten Mordanschlags.
Der sächsische AfD-Spitzenkandidat Andreas Kalbitz, der nachgewiesene Verbindungen in die Neonazi-Szene hat, holt für seine Partei trotzdem – oder gerade deshalb – ein Spitzenergebnis. Und als die AfD 201 triumphal in den Bundestag einzieht, verkündet AfD-Chef Alexander Gauland, man würde nun „Frau Merkel jagen“.
Funktional bleiben
Wohin man blickt: Katastrophen, sowohl politischer, als auch gesellschaftlicher und ökologischer Natur. Gefühlt habe ich mich so lange in einem Zustand der Dauerempörung befunden, immer kurz vorm Platzen. Jetzt ist kaum noch etwas davon übrig. Ich habe mich an so vieles gewöhnt, nehme so vieles hin. Weibliche Wut ist gerade sehr angesagt, sie gilt als etwas Positives, Notwendiges. Ich habe mich nie weniger wütend gefühlt als jetzt. Wenn meine frühere Dauerempörung ein Luftballon war, dann ist ihm nach und nach, ganz gemächlich, die Luft ausgegangen. Das ist zum Teil ein Schutzmechanismus: Kein Mensch kann ständig wütend, betroffen oder panisch sein. Also leben wir unser Leben weiter, haken To-Do-Listen ab, Business als usual. Wir spalten die allgegenwärtigen schlechten Nachrichten fein säuberlich auf und packen sie weg, damit es uns irgendwie möglich ist, zu funktionieren. Mittlerweile glaube ich, dass diese Reaktion, dieses unbedingte Bedürfnis, funktional zu bleiben, Teil des Problems ist – es befördert Verzweiflung und Verstörtheit und somit genau jene Umstände, die dazu beitragen, dass Menschen wie Trump oder Kalbitz das tun können, was sie tun, und dafür von vielen auch noch bejubelt werden. Dass unsere Erde vernichtet wird und Menschen trotzdem nicht weniger fliegen und weniger Fleisch essen wollen. Ein nie endender Kreislauf der Demoralisierung.
Meine eigene Demoralisierung wurde mir vor einigen Wochen deutlich, als die US-amerikanische Journalistin E. Jean Carroll Donald Trump im New York Magazine vorwarf, sie Mitte der 1990er Jahre vergewaltigt zu haben. Anstatt aufgebracht und traurig zu sein, fühlte ich – nichts. Trump wurde von so vielen Frauen vorgeworfen, sie belästigt und angegrabscht zu haben, und das schon vor seiner Wahl. Und mit welchem Resultat? Trump, der sich mit seinen Grenzüberschreitungen brüstete („Grab them by the pussy“) ist trotzdem Präsident der USA. E. Jean Carrols Geschichte, obwohl neu und vorher unbekannt, kam mir vor, als hätte ich sie bereits hundertfach gehört. Als stände darin nichts, was ich nicht sowieso schon wüsste. Wenn aber solch eine Geschichte nicht mehr zu mir durchdringt, was tut es dann überhaupt noch?
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Das Erhöhen der Messlatte
Die Wahrheit ist, dass ich meine Messlatte dafür, was ich zu ertragen bereit bin, immer höher gelegt habe. Sie befand sich mal auf einem angemessenen Niveau, nicht hoch oben, aber auch nicht knapp über dem Boden. In der Mitte eben. Heute liegt die Messlatte in schwindelerregender Höhe, was mich gleichzeitig beschämt und deprimiert. Wenn ich in den sozialen Medien sehe, wie Menschen unermüdlich auf das aufmerksam machen, was passiert, wenn sie emotional sind, traurig und wütend über den Zustand der Welt, dann fühle ich in mir ein ganz kleines Zucken. Es ist Neid. Darauf, dass diese Menschen nicht so offensichtlich abgestumpft sind wie ich es bin. Darauf, dass sie ihre Wut zeigen, ihre Traurigkeit. Darauf, dass ihre Messlatte so viel tiefer liegt als meine. Ich warte darauf, dass meine Abgestumpftheit Platz macht für Empörung, für Wut. Das Problem ist nur: Ich bin die Einzige, die diesen Platz schaffen kann. Und ich habe keine Ahnung, wie.