Eine kleine feine Leseleiste zum Wochenende, die gerne im Kommentarfeld ergänzt werden darf. Damit uns weder Lehrreiches und Amüsantes, noch Wichtiges entgeht:
Podcast: Carolin Emcke, wie finden wir Glück?
Meine liebste „Alles gesagt?“-Folge aller Zeiten. Denn kaum jemanden bewundere ich so sehr wie Carolin Emcke: Sie ist eine der führenden Intellektuellen, 2016 ausgezeichnet mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels: die Philosophin, Journalistin und Autorin Carolin Emcke. Nach ihrem Studium bei Jürgen Habermas und Axel Honneth in Frankfurt, London und Harvard wurde sie Kriegsreporterin beim Spiegel und schrieb später einen Bestseller über ihre Erlebnisse in den Krisenregionen der Welt (Von den Kriegen – Briefe an Freunde). Heute ist sie Essayistin, Kolumnistin und Autorin vieler weiterer Bücher, wie etwa von Stumme Gewalt – Nachdenken über die RAF, von Wie wir begehren, in dem sie auch ihr eigenes Coming-out thematisiert, und des internationalen Bestsellers Gegen den Hass. Seit 2004 ist sie Gastgeberin der politischen Gesprächsreihe Streitraum an der Berliner Schaubühne.
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Sind Nazis gegen Sex?
„In Polen haben vor wenigen Tagen Tausende Menschen gegen ein Gesetzesvorhaben protestiert, das Sexualkunde-Unterricht an Schulen unter Strafe stellen will: LehrerInnen würden dann bis zu drei Jahre Haft drohen, wenn sie SchülerInnen sexuell aufklären. Der Gesetzesentwurf wurde zwar vorläufig von Polens oberstem Gericht gestoppt, die Abgeordneten der Regierungspartei PiS stimmten aber dafür, an dem Vorhaben weiterzuarbeiten.
So weit, so wenig verwunderlich. Polen ist ein gespaltenes Land, auf der einen Seite stehen diejenigen, die für Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit, für Europa kämpfen: diejenigen, die sich über den Literaturnobelpreis für Olga Tokarczuk freuen. Und auf der anderen Seite erzkonservative, nationalistische, minderheitenfeindliche Kräfte, die sich nun, nach dem erneuten Sieg der PiS-Partei bei den Parlamentswahlen, noch stärker im Aufwind sehen, und die Tokarczuk zur „Anti-Polin“ erklären, wenn sie über Verbrechen spricht, die von ihren Landsleuten begangen wurden.“ Hier weiterlesen. Von Margarete Stokowski.
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Instagram: Warum tun wir uns das an?
„Es gibt gleich drei Männer, die behaupten, den Infinite Scroll erfunden zu haben. Von zwei von ihnen geistern Artikel im Internet herum, in denen sie diese Erfindung bereuen. Das ist kein Wunder, wenn man bedenkt, wie unglaublich groß der kulturelle Einfluss dieser paar Zeilen Code im letzten Jahrzehnt war. Schaut man sich die Definition der Anzeichen von Internetsucht an, dann wird einem schnell klar: Was Zigaretten in den 70ern waren, das ist das Smartphone heute. Es ist allgegenwärtig, fast alle sind abhängig, und obwohl wir eigentlich längst wissen, dass es uns nicht gut tut, geben wir uns kollektiv dem destruktiven Verhalten hin. Nur, dass es jetzt eben nicht mehr Marlboro und West heißt, sondern Instagram und YouTube. In dieser Metapher wäre YouTube übrigens der Vaping-Pen unter den Social-Media-Plattformen, denn in einer aktuellen Studie wurde festgestellt, dass es unter allen populären Plattformen die harmloseste ist – was den negativen Einfluss auf unsere mentale Gesundheit betrifft. Und nun ratet mal, welche App uns am meisten schadet? Ja, natürlich, Instagram. Die filterlose Kippe des Internets.“
Hier weiterlesen. Von Johanna Warda.
Mythos Vereinbarkeit – Karriere, Kind, Kollaps
„Ehrlich gesagt bin ich ganz schön auf die Welt gekommen, als ich Mutter wurde. Bis dahin war ich überzeugt gewesen, dass Frauen beruflich genauso wie Männer ihre Ziele erreichen können – wenn sie nur wollen. Ich war gerade dreissig, hatte mein Anwaltspatent seit ein paar Jahren in der Tasche und arbeitete auf der Inlandredaktion einer grossen Schweizer Tageszeitung. Ich liebte den Job. Und jetzt ein Kind? Das sollte heutzutage doch kein Problem mehr sein. Vielleicht wollte ich es gar nicht wissen. All die Kompromisse, die folgen würden. Die belastenden Emotionen, das permanente schlechte Gewissen. Weder möchte ich mich beklagen, noch andere Frauen entmutigen. Doch dem Mythos, dass sich für Frauen eine Familie mit einer erfolgreichen, bezahlten Beschäftigung vereinbaren lässt, muss mit mehr Ehrlichkeit begegnet werden.“
Hier entlang. Von Nadine Jürgensen.
„Ich bin mit Nachrichten aufgewachsen von Kurd*innen, die getötet wurden, weil sie Kurdisch sprachen“
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„Ich habe lange überlegt, ob ich Cigdem Topraks Kommentar in der „Welt“ vom 17. Oktober antworte. U. a. hat sie in ihrem Artikel geschrieben, dass es in der Türkei keinen Rassismus gegen Kurd*innen gebe. Diese Aussage versuchte sie mit Beispielen aus dem Militär zu beweisen und anhand des kurdischen Sängers Ahmet Kaya. Ich habe so viel dazu zu sagen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich glaube, ich fange am besten mit den Schuljahren an.
In jeder Schule in der Türkei hängen vier Bilderrahmen in jedem Klassenzimmer, oft über der Tafel, sodass die Schüler*innen sie durchgehend sehen müssen. In diesen Rahmen finden sich jeweils der Text der Nationalhymne, ein Bild von Atatürk, die türkische Fahne und ein Ausschnitt einer von Atatürks berühmten Reden, in dem er sich an die „türkische“ Jugend wendet und sie auf ihre patriotischen Pflichten hinweist. 1997 wurden Grund- und Mittelschule zusammengeführt, türkische Schulen bestehen seitdem aus acht Stufen. Jeden Morgen bevor der Schultag begann, sammelten sich früher alle Schüler*innen am Schulhof, stellten sich zum Appell und schwuren einen Eid, der mit „Ich bin Türke – ich bin aufrichtig“ begann und mit „Sei meine Existenz ein Geschenk ans Vaterland“ endete.“ Weiterlesen. Von Sibel Schick.
Warum ich weißen Menschen ab sofort nicht mehr von meinen persönlichen Rassismuserfahrungen erzählen werde
„An mich wird, wenn ich schreibe, auf Podien spreche und manchmal wenn ich Workshops gebe, häufig die Erwartung gerichtet, dass ich explizit meine Rassismuserfahrungen schildere. Weiße Menschen hoffen für ihr eigenes Lernen zu Rassismus auf persönliche Erfahrungsberichte von Schwarzen Menschen/PoC, die ihnen einen Einblick in deren Erleben geben. Dabei ist das Internet voll von haarsträubenden Berichten, Tweets, Facebook-Posts, Videos, Blogeinträgen und Podcasts, in denen Menschen detailliert ihre alltäglichen Gewalterlebnisse schildern: Ich denke spontan an den Hashtag #metwo auf Twitter und diverse Videos rassistischer verbaler oder körperlicher Angriffe. Es ist also nicht so, als wären weiße Menschen auf die Schilderung meines persönlichen Traumas angewiesen, um Rassismus verstehen zu können. Außerdem: All die Zeugnisse, die teilweise brutalster rassistischer Gewalt ein Bild geben und die im Internet für alle frei verfügbar sind, haben bisher nicht zu mehr Empahtie oder einem gesellschaftlichen Wandel geführt.“
Weiterlesen. Von Josephine Apraku.
Wir müssen wieder Hassen lernen
Kaum eine Emotion hat einen so schlechten Ruf wie der Hass. Und das zu Recht, findet der Journalist Jens Balzer. Trotzdem plädiert er dafür, ihn auch als politische Ressource zu begreifen, die man nicht allein den Feinden der Demokratie überlassen soll.
„Hass, überall Hass. Er ist allgegenwärtig. In den Medien; in den sozialen Netzwerken; in den verzerrten Fratzen der Wutbürger; im Gehirn des Mannes, der in Halle eine Synagoge zu stürmen versuchte und nach dem Scheitern dieses Versuchs zwei Menschen erschoss.
Der Hass zerstört unsere Gesellschaft, es muss etwas gegen ihn getan werden, darin scheinen sich gerade alle einig zu sein – oder doch zumindest alle diejenigen, die guten Willens sind und die sich wünschen, dass eine Gesellschaft nicht dem Gesetz des Stärkeren, Lauteren, Hasserfüllteren folgt, sondern den zivilen Regeln des Austauschs der Meinungen, der Debatte, des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen.“ Weiterlesen. Von Jens Balzer.
Facebook darf keine Lügenschleuder für Politiker sein
„(…) Um zu verstehen, warum der Zwerg Twitter den Riesen Facebook vorführt, muss man die Vorgeschichte kennen. Facebooks Ärger beginnt im September. Damals weigerte sich das Unternehmen, eine Anzeige von Donald Trump zu entfernen, die Falschaussagen über den Demokraten Joe Biden enthielt. Google, Twitter und viele Medien entschieden genauso und brachten die Anzeigen, doch Facebook zog wie so oft die größte Empörung auf sich.
Kurz darauf legte Facebook nach: Politiker dürfen auf Facebook lügen und gegen die eigenen Gemeinschaftsstandards des Netzwerks verstoßen. Beiträge werden nur in Ausnahmefällen entfernt, etwa wenn sie Gewalt auslösen könnten. Das gilt sogar für Anzeigen: Wer politisch aktiv ist, kann Geld dafür bezahlen, dass Facebook-Nutzer offensichtliche Lügen vorgesetzt bekommen.“
Weiterlesen. Von Simon Hurtz.
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Vom 1.11.1929: Wer wählt nationalsozialistisch?
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Zum ersten Mal zieht die NSDAP in den badischen Landtag ein. Die Frankfurter Zeitung zieht erste Schlüsse aus dem Wahlerfolg – und glaubt derweil nicht, dass die Partei die Demokratie gefährden könnte.
“ Das politische Thema des Tages ist in Baden der Wahlerfolg der Nationalsozialisten und die Frage nach den Gründen für ihn. Viel ist in diesen Tagen darüber geschrieben worden, aber die Erörterung der Frage wird dadurch erschwert, dass die Ursachen für das Anwachsen der nationalsozialistischen Stimmen zu verschiedenartig und im einzelnen Fall zu wenig kontrollierbar sind. Man muß zunächst übertriebene Auffassungen zurückweisen: der Kern der Wählerschaft hat an der guten demokratischen Tradition des Landes festgehalten; nur ein – allerdings ansehlicher – Bruchteil ist der nationalsozialistischen Werbung widerstandslos erlegen, nämlich der Teil der Bauernschaft und des Bürgertums, den Kriegsende, Umwälzung und Inflation politisch aus dem Gleise geworfen und derart direktionslos gemacht haben, daß er, verstärkt durch wirtschaftlich Unzufriedene aller Art, seit zehn Jahren von Wahl zu Wahl anderen Phantomen nachjagt.“
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Warum wir aufhören müssen, Stress zu glorifizieren
„Ganz genau erinnere ich mich an meinen Kindheitstraum: Mit den angegrauten Erwachsenen in dem gesaugten ICE mit meinem Laptop sitzen und total beschäftigt und wichtig sein. Wichtig sein, hieß für mich immer beschäftigt zu sein. Sich voll und ganz dem Beruf hingeben. So lehren es schließlich Fernsehen, Medien und unsere Eltern. Aber sie haben dieses System ja auch mit aufgebaut.
Nicht beschäftigt zu sein, wird schnell mit Faulheit gleichgesetzt. Damit, nichts oder nur „wenig“ erreicht zu haben. Deswegen suchen wir auch wie besessen nach der perfekten Work-Life-Balance und sind neidisch auf durchgeplante Notizbücher von Menschen, die scheinbar alles super im Griff haben. Nicht nur die Arbeit, auch unsere Freizeit mutiert zum alles dominierenden, dennoch glorifizierten Stress.“ Weiterlesen. Von Yasmine M’Barek.
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„Du warst nicht in meinem Bauch, aber ich hab’ dich genauso lieb“
Vater + Mutter = Kind – das war einmal. Heute ist die Frage nach der Familienplanung hochpolitisch. Will man überhaupt welche? Was bedeutet das für die Beziehung? Und wenn man sich dafür entscheidet – geht das dann so einfach? In dieser Kolumne erzählen Menschen von ihrer Entscheidung für und gegen Kinder.
Gemeinsam mit ihrem Mann hat Leah ihre Tochter adoptiert. Kurz danach wurde sie überraschend schwanger.
„Unsere Adoptionsgeschichte beginnt mit einem Kinderwunsch und drei Rückschlägen. Als mein Partner und ich uns mit Anfang 30 dazu entschieden, Eltern zu werden, bin ich recht schnell schwanger geworden. In der zwölften Schwangerschaftswoche stand ein Arztbesuch an, danach wollten wir allen sagen: ‚Hey, wir bekommen ein Baby!‘ Beim Arzt hieß es dann aber: ‚Ihr Baby hat keinen Herzschlag mehr.‘ Da stand für uns die Welt still. Trotzdem haben wir uns wenig später wieder besonnen und es nochmal versucht. Siehe da: Ich war zum zweiten Mal schwanger. Aber kurz darauf hörte ich erneut: ‚Kein Herzschlag mehr.‘ Dennoch war unser Kinderwunsch so stark, dass wir es weiter versuchten. Doch auch das ging schief.“ Weiterlesen. Ein Protokoll von Franziska Koohestani.