Vom natürlichen Afro der Schwarzen Bürgerrechtlerin Angela Davis bis hin zur iranischen Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh, die zu 38 Jahren Gefängnishaft verurteilt wurde, nachdem sie sich öffentlich ohne Hijab gezeigt hat: Haare sind unlängst zu einem politischen Statement geworden.
Unsere Haare können auf vielfältigste Art und Weise als Form politischen Ausdrucks dienen: In den 20er-Jahren spiegelte sich die Freiheit der Flapper-Ära in den Schindel-Bobs der Bloomsbury Group und dem kosmopolitischen Bubikopf von Josephine Baker wider. In den 1960er-Jahren war es dann der Afro der Bürgerrechtlerin Angela Davis, der zum Symbol einer ganzen Bewegung wurde.
Und in den 80er-Jahren galten die Punks mit ihren stacheligen Irokesenschnitten als Vorreiter der Anti-Establishment-Ästhetik. Einige Dekaden später, im Jahr 2014, rasierte sich Modedesignerin Vivienne Westwood ihre Haare ab, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen. Und Rose McGowan entschied sich 2015 dazu, ihre Haare komplett abzuschneiden. In ihren Memoiren namens „MUTIG“ begründete die Schauspielerin ihre Entscheidung damit, nicht länger wie ein „perfektes Spielzeug feuchter Männerfantasien“ aussehen zu wollen. (McGowan war außerdem maßgeblich daran beteiligt, die #MeToo-Bewegung im Jahr 2017 voranzubringen, nachdem sie behauptet hatte, 1997 von Harvey Weinstein auf dem Sundance Film Festival vergewaltigt worden zu sein.)
„Haare werden seit jeher als Ausdruck von Politik und persönlichen Überzeugungen verwendet. Das kann man wieder und wieder in den verschiedensten Kulturen der ganzen Welt beobachten“, erklärt uns die Haarhistorikerin Rachael Gibson (@thehairhistorian). „Afro-Stile sind untrennbar mit Bürgerrechten verbunden, da natürliches Haar als wichtiges Symbol der Bewegung und des ‚Black is beautiful‘-Ethos betrachtet wird. Skinheads haben Rebellion und Ablehnung der traditionell akzeptierten Sozialästhetik der 80er-Jahre dargestellt. Und die Steuer auf Haarpuder aus dem Jahr 1786 führte zu einer massiven Ablehnung von Perücken für Männer und brachte einen neuen Trend kurzer, natürlicher Frisuren hervor. Auf visueller Ebene haben Haare schon immer dazu gedient, etwas Tieferes zum Ausdruck zu bringen.“
Haarfarbe als Rebellion
Neben den Haarschnitten können auch Haarfarben als Zeichen der Rebellion dienen. Ein Beispiel ist Nadya Tolokonnikova, Mitglied der Punkband Pussy Riot, die 2015 auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz einen Protest für inhaftierte Frauen gestartet hat. Auch wenn sie schließlich verhaftet wurde, setzte sie mit ihrer grünen Gefängnisuniform und ihren passenden grün gefärbten Haaren doch ein wirkungsvolles Statement.
Im Oktober dieses Jahres verzierte die britische Haarmarke Bleach London den knallgelben Buzz Cut eines Demonstranten (der zu den Warnwesten der PolizistInnen passte) mit dem schwarzen Symbol der Gruppe „Extinction Rebellion“ – das nun weltweit anerkannte Logo der Bewegung stellt die Erde mit einer Sanduhr in der Mitte dar, um zu zeigen, dass die Zeit für unseren Planeten abläuft.
„Im Gegensatz zur Mode kann man sich durch seine Haare viel einfacher mit einem Trend oder […] einer Gruppe identifizieren“, sagt Gibson. „Auch wenn man sich vielleicht kein Outfit von Vivienne Westwood leisten konnte, haben es ein Bic-Rasierer und ein billiges Haarfärbemittel auch getan, um der Welt zu zeigen, dass man ein/e AnhängerIn der Punkbewegung war.“
„Haare können wortwörtlich als Leinwand für politische Überzeugungen gesehen werden“, fährt Gibson fort. „Im 18. Jahrhundert haben die französischen Frauen Modellboote und Fahnen in ihre Perücken gesteckt, um in militärischen Kämpfen ihre Unterstützung und Loyalität auszudrücken.“ Modernes Beispiel: Bei den Academy Awards 2018 hat Meryl Streep (damals als beste Hauptdarstellerin nominiert) einen Anstecker der #TimesUp-Bewegung gegen sexuelle Belästigung in ihrem Chignon befestigt, um ihren Beistand zu äußern.
Der „Post Trump“-Haarschnitt
Ein einfacher Haarschnitt kann Bände sprechen. Ein Artikel von „The Cut“ aus dem Jahr 2016 mit dem Titel „The Post-Trump Haircut“ konnte etwa dokumentieren, dass weichere Haarschnitte mit blonden Highlights nach der Wahl von Präsident Trump zunehmend mit dunklen, radikaleren Haarschnitten ersetzt wurden. „Wenn man so viele blonde Haare auf dem Boden sieht, weiß man, dass etwas los sein muss“, meinte Nicole Butler, Kreativdirektorin von Daniel’s Salon in Washington, damals gegenüber der Website. „Es war wie eine Massenerklärung der Unabhängigkeit.“
Auch die langen Haare der Hippies aus den 1970ern dienten als Ausdruck von Rebellion und Protest. „Junge Menschen, die in den 70er-Jahren, als der Vietnamkrieg tobte, ihre Haare lang wachsen ließen, haben nicht nur den ordentlich gepflegten Frisuren ihrer Eltern getrotzt. Sie haben sich mit ihren Haaren, die im krassen Gegensatz zu den sauber geschnittenen, einheitlichen, militärischen Frisuren standen, auch von jeglichem Konflikt distanziert.“
In Frida Kahlos „Self-Portrait with Cropped Hair“ (1940) stellt sich die Künstlerin mit kurzen Haaren, einer Schere in der Hand und einem abgetrennten Flechtzopf dar, umgeben von Haarbüscheln auf dem Boden. Über dem Bild befindet sich der Songtext eines mexikanischen Liedes: „Wenn ich dich liebe, dann wegen deiner Haare. Jetzt, da du keine Haare mehr hast, liebe ich dich nicht mehr.“ Die KunstkritikerInnen des Museum of Modern Art vermuten, dass das Bild Kahlos neu gefundene Autonomie symbolisiert, nachdem sie sich geschworen hatte, nach ihrer Scheidung von dem Künstler Diego Rivera im Jahr 1939 finanziell unabhängig zu werden.
„Haare sind oft sehr stark mit Emotionen und Identität verbunden, die in vielen Fällen jedoch von der breiteren Gesellschaft und nicht von dem/der TrägerIn erzeugt werden“, sagt Gibson. „Zum Beispiel durften Frauen erst in der relativ jungen Geschichte (ungefähr in den 1920ern) eine Variation des langen Haares tragen oder gar in der Öffentlichkeit mit offenen Haaren gesehen werden. Es wurde von Frauen erwartet, ihr Haar wachsen zu lassen und es lang zu tragen, als Zeichen ihrer Weiblichkeit und späteren Wertes als Frau und Mutter. Dass Frauen in den 1920er damit begonnen haben, ihre Haare kurz zu schneiden, hat deswegen einen weit verbreiteten Skandal ausgelöst. Tatsächlich waren Männer im Besitz über das Aussehen der Frauen. Väter haben sogar versucht, Strafanzeige gegen Friseure zu erstatten, die ohne ihre Erlaubnis das Haar ihrer Töchter kurz geschnitten haben. Das gleiche [Phänomen] konnten wir auch in modernen Zeiten beobachten, etwa als Vidal Sassoons „Wash and wear“-Bobs der 1960er-Jahre Frauen von langen und wöchentlichen Aufenthalten beim Friseur befreit haben – und ihnen so die Zeit gegeben haben, zu arbeiten oder ihre Freizeit anderweitig zu verbringen.“
Haare als Kampf für den gesellschaftlichen Wandel
Eine Studie des Perception Institute aus dem Jahr 2016 bestätigt, dass Schwarze Frauen mit natürlichen Haaren am Arbeitsplatz noch immer mit Vorurteilen konfrontiert werden. 2010 etwa wurde in Alabama ein Jobangebot an Chastity Jones, eine Woman of Color, annulliert, nachdem sie sich geweigert hatte, ihre Dreadlocks abzuschneiden. Anfang dieses Jahres – und nach mehreren weiteren Klagen – haben die Stadt New York und der Staat Kalifornien die Rassendiskriminierung aufgrund von natürlichen Haaren schlussendlich gesetzlich verboten. Die neuen Richtlinien, die von der New York City Commission on Human Rights im Februar veröffentlicht wurden, garantieren das Recht der Menschen auf „Naturhaar, gemachte oder ungemachte Frisuren wie Locken, Cornrows, Twists, Zöpfe, Bantu-Knoten, Fades, Afros und/oder das Recht, Haare in einem ungeschnittenen Zustand zu tragen“.
Vor Kurzem waren zudem die Frisur und Friseurkosten der New Yorker Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez in den Schlagzeilen. Und man sieht immer öfter, wie die politische Opposition ihre Haare als Statement instrumentalisiert: Am Internationalen Frauentag dieses Jahres (8. März) protestierten etwa drei unverhüllte Frauen im Iran friedlich gegen die vorgeschriebenen Hijab-Gesetze ihres Landes und haben Blumen an weibliche Passagierinnen in einem U-Bahn-Zug in Teheran verteilt. Nachdem ein Video der Aktion viral ging, wurden Monireh Arabshahi, ihre Tochter Yasaman Aryani und Mojgan Keshavarz am 31. Juli 2019 zu 55 Jahren Gefängnishaft verurteilt und unter anderem für die „Anstiftung und Begünstigung von Verdorbenheit und Prostitution“ angeklagt.
Auch Nasrin Sotoudeh, eine iranische Menschenrechtsanwältin, wurde nach Angaben ihrer Familie im März zu 38 Jahren Gefängnis und 148 Peitschenhieben verurteilt, nachdem sie sich gegen die aufgezwungenen Hijab-Gesetze ihres Landes eingesetzt hat. Eine weitere iranische Demonstrantin, Vida Movahed, wurde 2017 festgenommen, nachdem sie ihr weißes Kopftuch an einem Stock befestigt und in die Luft gehalten hat und sich auf einem Stromkasten in der belebten Revolution Street in Teheran gestellt hat. Movaheds Aktion inspirierte weitere Frauen, ihre Stimmen zu erheben, auch wenn sie schließlich verhaftet wurden.
Heute wird die #TheGirlsofRevolutionStreet als die #MeToo-Bewegung des Irans angesehen. Und erst kürzlich, am 2. September, hat sich die 29-jährige Iranerin Sahar Khodayari vor einem Teheraner Gericht in Brand gesetzt, nachdem sie erfahren hatte, dass sie für sechs Monate inhaftiert werden könnte. Der Grund: Zuvor hat sie versucht, ein Fußballstadion verkleidet als Mann zu betreten, in dem Frauen eigentlich verboten sind. Eine Woche später lag Khodayari ihren Verletzungen zugrunde.
Geschlechterpolitik und Haare
In Afghanistan gibt es eine geheime Praxis, bei der Mädchen als Jungen verkleidet werden (genannt „bacha posh“ oder „als Junge verkleidet“). Familien wollen somit mehr Freiheit erlangen und ihren Familienstand verbessern. Aufgedeckt wurde die Praxis von der schwedischen investigativen Journalistin Jenny Nordberg und in ihrem Buch „Afghanistans verborgene Töchter: Wenn Mädchen als Söhne aufwachsen“ veröffentlicht.
„Eine Familie ohne Sohn wird als schwach und perspektivlos für die Zukunft der Eltern angesehen. Söhne und Männer werden unterdessen als Währung und Kraftmaß in einer weitgehend gesetzlosen Gesellschaft angesehen und eingesetzt“, erklärt uns Nordberg. „Das Erste, mit dem man ein afghanisches Mädchen in ein bacha posh verwandeln kann, ist ein Haarschnitt. Azita [Rafat], eine afghanische Parlamentarierin, deren jüngste Tochter als Junge durchgegangen ist, beschreibt, dass es eine sehr einfache [Verwandlung] für ihr sechsjähriges Kind war: ein Friseurbesuch, ein Paar Jeans und ein Hemd und eine winzige Veränderung im Namen, von ‚Manoush‘ zu dem maskuliner klingenden ‚Mehran‘.“
Ihre Familie lernte die Vorteile kennen und lieben, die die „Änderung“ des Geschlechts ihres Kindes in Afghanistans streng geschlechtsspezifischer Kultur mit sich brachte. „Ihr wurde erlaubt, Sport zu treiben, Fahrrad zu fahren und auf dem Beifahrersitz neben ihrem Vater zu sitzen, der vor Stolz strahlte, dass sein angeblicher Sohn neben ihm saß. Mehran konnte ihre Schwestern sogar durch die Nachbarschaft begleiten, wo alle Mädchen, die augenscheinlich einen Bruder in ihrer Familie haben, mehr Bewegungsfreiheit genießen konnten. In einigen Ländern ist ein Haarschnitt ein geringer Preis, den Frauen und Mädchen zahlen müssen, um aus der Tür treten zu können.“