Liebe Margaret Atwood,
gestern wurden Sie 80 Jahre alt – kaum zu glauben, so umtriebig und frisch wie sie immer noch sind. Aber sie werden tatsächlich 80 und deshalb schreibe ich Ihnen einen Geburtstagsbrief.
Ich habe Sie gesehen, letztens, auf der Frankfurter Buchmesse. Oder eigentlich habe ich Sie nicht gesehen, denn vor der Bühne im Norwegischen Pavillon drängten sich so viele Menschen, dass ich erst gar nicht mitbekam, wer da vorne überhaupt interviewt wurde. Aber gehört habe ich Sie. Die Moderatorin fragte, wie es sich denn so anfühle, ein Rockstar zu sein. Und Sie antworteten: „Wissen Sie, es ist wie wenn die Leute einen fragen ‚Wie fühlt es sich an, tot zu sein?‘ Ich weiß es einfach nicht!“ Was ich außerdem an diesem Tag erfuhr: Sie praktizieren Handlesen, einfach deshalb, weil sie Spaß daran haben, und am liebsten für völlig Fremde.
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Auch Sie waren mal eine völlig Fremde für mich. Ein Name, den ich noch nie gehört hatte und der mir nichts sagte. Sie standen auf der Lektüreliste für Englisch-Leistungskurse, Zentralabitur NRW, 2007. Die Schüler*innen, so war festgelegt worden, mussten im Englisch-LK zumindest einen dystopischen Roman lesen – und mein Lehrer entschied sich für Ihr The Handmaid’s Tale, nicht für Ray Bradburys Fahrenheit 451. Das allein war schon etwas Besonderes, lasen wir in der Schule ansonsten doch gefühlt zu 80 Prozent Texte von Männern. Ich muss zugeben, liebe Margaret Atwood, dass ich mit Ihrem Buch erst einmal wenig anfangen konnte. Ich verstand nicht, worum es ging, das an vielen Stellen Fragmentarische, Angedeutete, störte mich.
Doch nach und nach packte sie mich, die Geschichte von Offred, von einem Staat, in dem Frauen keine Rechte haben. Und: Der Englisch-LK war der einzige Unterricht, in dem jemals das Wort ‚Feminismus‘ fiel. Ich lernte, dass Feministinnen in den 1970ern ihre BHs verbrannten (und erst sehr viel später, dass das so nicht stimmt), und dass es so etwas wie einen ‚Backlash‘ gegen feministische Errungenschaften geben kann. The Handmaid’s Tale war eines der Bücher, das nachhaltig etwas in mir veränderte, bei dessen Lektüre ich spüren konnte, wie sich in meinem Hirn neue Verbindungen ergaben, Räume entstanden. Und dann die Sprache! So schnörkellos und präzise und voller kleiner Details, die man so leicht übersehen kann, und die doch so wichtig sind. Die dafür sorgen, dass man in The Handmaid’s Tale immer wieder etwas Neues entdeckt, egal, wie oft man es schon gelesen hat. Das Buch entwickelt einen Sog, eine stille Kraft und am Ende ist nichts mehr so, wie es mal war. Zumindest in mir.
Natürlich habe ich auch andere Bücher von Ihnen gelesen, Margaret Atwood. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir Cat’s Eye – eine Geschichte über komplizierte Mädchenfreundschaften und wie sehr diese das Leben einer erwachsenen Frau prägen. Oder Alias Grace, über ein junges Dienstmädchen, das 1843 beschuldigt wird, zwei Menschen (darunter ihren Arbeitgeber) umgebracht zu haben. Frauen als Täterinnen ist nur eines der vielen Themen, die sich immer wieder in Ihren Büchern finden. Andere sind Geschlecht und Identität, Religion und Macht. Und immer wieder Umwelt, beziehungsweise deren Zerstörung: Die theokratische Diktatur Gilead in The Handmaid’s Tale ist unter anderem das Resultat einer Umweltkatastrophe, und auch in Orynx und Crake, einem weiteren dystopischen Roman, geht es um menschenverschuldete Umweltschäden und deren Folgen (in diesem Fall ist eine globale Seuche ausgebrochen).
Sehr wahrscheinlich wird gerade The Handmaid’s Tale Jahrzehnte nach seinem Erscheinen deshalb so gerne gelesen, hat das, was man wohl ein cult following nennt: Es fühlt sich, auf traurige Weise, so unglaublich aktuell und dringend an. Wie ein Blick in eine Wahrsagekugel. Wie eine Warnung davor, was sein könnte: Wenn die Mächtigen dieser Welt die Klimakrise weiter ignorieren; wenn Politik auf Basis von Angst, Hass und Ausgrenzung gemacht wird; wenn der gesellschaftliche Zusammenhang sich auflöst. Trotzdem sind Ihre Bücher, Margaret Atwood, keine politischen Pamphlete, ist der Inhalt nicht wichtiger als die Form. Immer stehen die Menschen im Mittelpunkt, in ihrer ganzen Vielschichtigkeit. Dabei verweigern Sie sich einer bestimmten Lesart. Danach gefragt, ob The Handmaid’s Tale ein „feministischer Roman“ sei, antworteten Sie:
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„Wenn Sie ein ideologisches Traktat meinen, in dem alle Frauen Engel und/oder so zu Opfern gemacht werden, dass sie unfähig sind, moralische Entscheidungen zu treffen, nein. Wenn Sie einen Roman meinen, in dem Frauen menschliche Wesen sind – mit der ganzen Vielfalt in Charakter und Verhalten, die dies bedeutet – und außerdem interessant und wichtig, und was mit ihnen passiert ist entscheidend für das Thema, die Struktur und die Handlung des Buchs, dann ja. In diesem Sinne sind viele Bücher ‚feministisch‘.“ |
Sie bestehen auf der Vielfalt weiblicher Erfahrung, darauf, dass Frauen nicht nur Heldinnen oder Opfer sind, sondern auch Täterinnen, schlechte Freundinnen, fies, opportunistisch und intrigant. Frauen sind in ihren Büchern vieles, dürfen vieles sein – was in einer Welt, in der es die Bezeichnung ‚Frauenliteratur‘ gibt und Leser*innen unterstellt wird, dass sogenannte ‚feministische‘ Literatur für sie bedeutet, über kämpferische Frauen, liebenswerten Opfer des Patriarchats, und böse Männer zu lesen, immer noch, nun ja, radikal ist. Leider. Sie, Margaret Atwood, trauen ihren Leser*innen sehr viel mehr zu. Ihr Verhältnis zum Feminismus irritiert mich dennoch ein bisschen. In einem Interview mit Emma Watson sagten Sie, Feminismus sei zu einem dieser „allgemeinen Begriffe“ geworden, „die eine ganze Reihe von Dingen bedeuten können.“ Da stimme ich Ihnen zu: Wenn Ivanka Trump eine selbsterklärte Feministin ist, was ist Feminismus dann noch? Das feministische Label lehnen Sie nicht komplett ab, betonen aber, dass sie zunächst wissen möchten, was damit gemeint ist. Sie beharren darauf, dass Feminismus nicht bedeute, alles, was Frauen sagen und tun, blind zu unterstützen – und implizieren damit, genau das würde Feminismus tun. So sehr ich sie verehre, Margaret Atwood, das scheint mir doch sehr eindimensional.
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Andererseits passt das alles dann doch ganz gut zu Ihrem Anspruch, die Dinge kritisch zu hinterfragen und unbequem zu sein. So sehr ich diesen Anspruch bewundere, so sehr stört er mich manchmal – wie im Fall eines umstrittenen offenen Briefes, den Sie unterschrieben und verteidigt haben. Mich ärgert, dass Sie jüngeren Feminist*innen automatisch eine bestimmte Haltung zu unterstellen scheinen, ohne in einen wirklichen Dialog mit ihnen eintreten zu wollen. Das ist schade, denn von einer klugen, argumentativen, kritischen Frau wie Ihnen kann man viel lernen – das heißt aber nicht, dass Sie immer Recht haben. Sie sind ein Vorbild, Margaret Atwood. Und von realen, lebendigen Vorbildern erwartet man nicht, dass sie perfekt sind und alles richtig machen. Man erwartet von ihnen Selbstkritik; dass sie zu ihren Fehlern stehen und bereit sind, daraus zu lernen.
Liebe Margaret Atwood, ich weiß, es ist ihr Geburtstag und deshalb dürfen eigentlich Sie sich etwas wünschen. Aber wenn ich auch einen Wunsch äußern dürfte, dann diesen: Bitte schreiben Sie noch ein paar Bücher – ich bin mir sicher, Sie haben noch eine Menge zu sagen, wie Sie gerade in der Booker-Prize-prämierten Fortsetzung von The Handmaid’s Tale bewiesen haben. Das Beste ist: Bis ein neues Buch von Ihnen erscheint, gibt es ganze 17 Gedichtsammlungen, 16 Romane, 8 Kurzgeschichtenkollektionen und jede Menge anderer Texte – sowie die sehr guten Verfilmungen von The Handmaid’s Tale (Hulu) sowie Alias Grace (Netflix) – von Ihnen zu entdecken. In einem Interview haben Sie vor kurzem gesagt: „Ich bin zu alt, um Angst vor vielem zu haben.“ Bleiben Sie furchtlos, Margaret Atwood, und alles Gute zum 80. Geburtstag. Ihre Julia Korbik – ein kritischer, aber auch großer Fan.