Warum wir dringend zugeben müssen, dass wir keine Ahnung haben

Das erste Mal fiel mir schwer, sehr schwer. Beim zweiten Mal ging es schon ein bisschen leichter. Und beim dritten Mal kam es mir vor, als sei es die normalste Sache der Welt: zu sagen, dass ich zu etwas keine Meinung habe. Weil ich mich bei dem fraglichen Thema zu wenig auskenne, weil es mich nicht besonders interessiert, weil das Thema ein schwieriges, kompliziertes ist oder weil ich mir schlicht noch keine Meinung dazu gebildet habe.

Meinungen, überall

Keine Meinung zu etwas zu haben ist für eine meinungsfreudige Person wie mich schon ziemlich spektakulär. Ich habe viele und starke Meinungen zu einer Vielzahl von Dingen, von denen einige objektiv betrachtet bedeutsam sind, andere eher eine persönliche Obsession und manche von ihnen beides. Dazu gehören: Feminismus, Diskriminierung, Klimakrise, Unhöflichkeit, Pasta, Staubsaugen, Flip Flops (um es ganz deutlich zu sagen: Flip Flops sind der Teufel und sollten, außer am Strand, nie nie nie getragen werden). Demgegenüber steht wiederum eine Vielzahl von Dingen, zu denen ich keine Meinung habe, ob aus Uninformiertheit oder warum auch immer. Stranger Things, zum Beispiel, oder Avocados.

[typedjs]Keine Meinung zu etwas zu haben und das auch zu sagen, fühlt sich für mich befreiend an.[/typedjs]

Keine Meinung zu etwas zu haben und das auch zu sagen, fühlt sich für mich befreiend an. Vor allem, weil ich aus dem Journalismus komme, wo man immer und überall und zu allem eine Meinung haben muss. Weil man erstens mehr Nachrichten und Informationen konsumiert als der Durchschnittsmensch und zweitens Meinungen im Journalismus wahnsinnig gefragt sind. „Hier, die Spätis sind bedroht“, heißt es dann, „schreib doch mal was dazu, was mit Haltung.“ Und so sitzt man da und grübelt: Pro oder Contra Späti? Was sind die Vor-, was die Nachteile? Habe ich überhaupt eine Meinung dazu? Egal. Ein Bekannter kündigte seinen Job bei einer Tageszeitung, einfach weil er es nicht mehr ertrug, ständig nach hot takes zu einem aktuellen Thema gefragt zu werden. „Zu vielen Dingen kann man ich mir so schnell einfach keine Meinung bilden“, sagte er.

Selbstverständlich meinungsfreudig

Nachvollziehbar – und trotzdem würden viele Menschen sich lieber die Zunge abbeißen, als zuzugeben, dass sie zu einem Thema keine Meinung haben. Denn keine Meinung zu haben bedeutet, keine Ahnung zu haben, uninformiert zu sein. Und ahnungslos sein möchte niemand. Wie oft schon haben mir Männer (na klar) lange Vorträge über von mir erwähnte Bücher gehalten, nur um dann auf Nachfrage zuzugeben, dass sie das fragliche Buch gar nicht gelesen haben. Hauptsache, eine Meinung vertreten. Hauptsache, so tun, als wüsste man Bescheid.

 
 
 
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Passenderweise ist das Lieblingsbuch eines Bekannten von mir ein Buch darüber, wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Zu diesem Buch habe ich eine Meinung, und zwar diese: Es ist wunderbar geschrieben und offensichtlich von jemanden, der Literatur liebt – gleichzeitig befördert es die allgegenwärtige Besessenheit mit Meinungen. Warum nicht selbstbewusst sagen „Dazu habe ich keine Meinung, tut mir leid“, statt ein ganzes Buch darüber zu lesen, welche Meinung man am besten zu Büchern, die man nicht gelesen hat, haben sollte?

Mansplaining ist ein Teil des Meinungsproblems: Männer sind, mehr als Frauen, von der Wichtig- und Richtigkeit der eigenen Meinung überzeugt, tragen diese selbstbewusster vor und haben ein offenbar dringenderes Bedürfnis, überall durch (vermeintliches) Fachwissen zu glänzen. Ein anderer Teil des Problems ist die Überzeugung, es gäbe zu jeder Sache, jedem Problem, jedem Sachverhalt eine Meinung, die Meinung.

Game of Thrones beispielsweise muss man lieben oder hassen – aber zugeben, dass man keine Meinung dazu hat, weil man sich nie aufraffen konnte, die Serie zu sehen? Schwieriger wird es natürlich, wenn es um komplexe politische, gesellschaftliche oder ethische Sachverhalte geht. Die Selbstverständlichkeit, mit der viele Menschen selbstbewusst ihre Meinung kundtun, nachdem sie zu einem Thema ein oder zwei Artikel gelesen, eine*n einzige*n Experten*in gehört haben, erstaunt mich immer wieder. Je älter ich werde, desto ahnungsloser fühle ich mich und desto weniger in der Lage, zu allem und jedem eine Meinung zu haben. Ohne Frage gibt es Themen, zu denen man eine Meinung haben sollte, weil sie so wichtig sind. Und es ist durchaus möglich, aus purer Ignoranz keine Meinung zu etwas zu haben – keine Meinung zu haben, kann auch eine Meinung sein, klar.

Allgemeine Unwissenheit

Aber davon mal abgesehen und ganz grundsätzlich glaube ich, es kann nicht schaden, diesen Satz öfter mal zu sagen: „Dazu habe ich keine Meinung“. Vielleicht sogar zu erläutern, warum man keine Meinung dazu hat – und sich so durchaus einfach mal aus der unwissende Mensch zu outen, der*die man ist.

2 Kommentare

  1. katja

    danke für text & thema. gerade in einer vermeintlich komplexer werdenden welt oder in in einer welt, in der komplexität einsehbar ist als noch vor zehn jahren, wichtig.

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