Ich kann gar nicht glauben, dass ich diese Zeilen überhaupt tippe. Eigentlich scheint die Sachlage nunmal wirklich keine Fragen offen zu lassen: Wer krank ist, möge bitte gesund werden. Und wo wird man gesund? Genau, im Bett. Und wie? Indem man sich Ruhe gönnt. Klar wie Kloßbrühe. Bloß hält sich kaum jemand daran. Eine interne Befragung meines Freundeskreis ergibt in der fast dritten Januarwoche: Vier Erkältungsfälle. Jedoch säuft nur ein einziger der von Bazillen und Viren Flachgelegten deshalb Tee und verpennt wichtige Meetings. Alle anderen sitzen mit viel Schnodder in der Nase und schmerzenden Gliedern in ihren Büros, trinken Aspirin Complex statt heiße Zitrone, leiden lautlos oder motzen leise und verteufeln den Vitamin D-armen Winter. Dabei sollten sie lieber sich selbst verfluchen. Und die wahnsinnig gewordene Arbeitswelt, die ihnen die Last des ewigen Präsentismus überhaupt erst eingeheimst hat. Präsentawas?
Unsere Freundin Wiki weiß: „Mit Präsentismus (von Präsenz – Anwesenheit) bezeichnen Arbeitspsychologie und Arbeitsmedizin das Verhalten von Arbeitnehmer*innen, die insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit trotz Krankheit am Arbeitsplatz sind (…). Ich weiß nicht, aus welcher Zeit dieser Eintrag stammt, aber selbst ohne Konjunkturschwäche trauen sich offenbar nur wenige, einfach mal „Nein“ zu sagen. Zu Kolleg*innen, Vorgesetzten und dem Job, der wohl auch nach der Grippe noch existent sein würde. Letzteres scheint für unsere Ratio jedoch nicht so leicht greifbar zu sein. Vielleicht, weil wir im Digitalen Zeitalter ohnehin permanent erreichbar sein müssen und vergessen haben, dass es tatsächlich möglich ist, sich für einen Augenblick von der Außenwelt abzunabeln, ganz bewusst. Aber auch, weil wir ständig in Sorge sind, man könne uns für faul halten, für wenig zuverlässig oder im schlimmsten Fall sogar für Arschlöcher, die wegen zu wenig Bock lieber die anderen ackern lassen. Und wohin mit all dem dem erlernten Verantwortungsbewusstsein? Kaum jemand fällt schließlich gern anderen zur Last.
Hinzu kommt obendrein das, nennen wir es einfach mal „Ich-Ich-Ich-Dilemma“. Wir meinen heute vielleicht mehr denn je, einzigartig und unabdingbar zu sein, sind sicher, dass die Dinge ohne unsere Anwesenheit ganz bestimmt aus dem Ruder liefen. Bei einer sich heran pirschenden Krankheit verlässt und also nicht nur der Mut, wir fürchten nicht nur Chefinnen und Chefs, die mit Enlassung drohen – im schlimm Fall geben sich das eigene Ego und die große Verunsicherung ganz nonchalant die Klinke in die Hand. Ganz egal, wie man es dreht und wendet und welche Gründe auch immer uns davon abhalten mögen, in Ruhe gesund zu werden – am Ende gelangen wir vermutlich zu der Erkenntnis, dass es uns vor allem an der Stärke mangelt, mehr Schwäche zuzulassen. Und dass wir, trotz des öffentlichen Anprangerns von Makeln und der wachsenden Sucht nach Selbstoptimierung nunmal noch immer keine Cyborgs, sondern, im Gegenteil, sehr verwundbar sind.
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Dass wir Zeit brauchen. Was schon wieder tragisch ist – denn genau die gilt heutzutage als reinste Mangelware.
Selbst Schuld also? Mitnichten. Das alles, diese Gedanken und Sorgen, kommt ja wahrhaftig nicht von ungefähr. Wo wir übrigens wieder bei Sartre angelangt wären:
L’enfer, c’est les autres! Die Hölle, das sind die anderen. Aus : Geschlossene Gesellschaft. 1944 war das – und doch hat die Quintessenz des Dramas an Wahrheitsgehalt kaum eingebüßt. Es ist ja nicht so, als seien unsere Befürchtungen völlig daneben und irrational – je nach Arbeitsklima eben. Und selbst im quietschfidelsten Märchenoffice passiert manchmal Unmenschliches – gerade weil wir eben alle nur Menschen sind.
Gönnen wir den Anderen denn wirklich immer und ausnahmslos ihre selige Genesung? Oder rollen wir womöglich doch gelegentlich mit den Augen, weil jemand „ganz schrecklich krank“ ist und „wir jetzt wieder die ganze Scheiße am Hals haben“? Nett ist das nicht, aber auch wieder: Verständlich. Denn der Teufel des Leistungsdruck sitzt schließlich auf unser aller Schultern. Was also tun?
Gesund werden. Trotzdem. In Ruhe. Im Bett. Bitte, bitte.
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Mit anderen nachsichtig sein, damit sie es in Zukunft auch mit uns sind. Unterstützung anbieten und annehmen. Und endlich damit beginnen, Grenzen zu ziehen. Weil es am Ende ja doch nur schlimmer wird. Und falls das hilft: Im Schnitt sind Angestellte etwa 19,5 Tage pro Jahr krankgeschrieben. Ich kenne glaube ich niemanden, der auf diese „normale“ Zahl kommt.
Stattdessen verschleppen wir Krankheiten, muten unserem Herzmuskel aufpushende Medikamente zu, die wir im Grunde gar nicht bräuchten, stecken andere oder gleich das gesamte Büro an, sind unproduktiv und laufen auf lange Sicht sogar Gefahr, uns dauerhaften Schaden zuzufügen, etwa psychischer Natur. Das ist doch eine wahnsinnig gewordene Welt, in der wir etwas, das von Mediziner*innen attestierbar ist, dennoch nicht für voll nehmen. Dass wir selbst mit Krankschreibung in der Tasche viel zu häufig nicht nicht arbeiten, sondern bloß von zuhause aus. Dass wir uns nicht trauen, zu sagen: Ich kann echt nicht mehr, ciao, bis bald.
So traut euch doch. Hopp, hopp. Denn nur wer über ausreichend Energie verfügt, hat auch (wieder) richtig Bock.
Und merke: Die, die uns niemals rasten lassen, das sind die wahren Verrückten. Sie machen uns nämlich vielleicht viel kranker als all die U-Bahn-Viren der Welt zusammen.