Gillian Anderson ist eine Fernsehlegende. Mit ihrer Rolle als Dana Scully in „Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI“ hat die Schauspielerin im Laufe von 25 Jahren eine internationale Fangemeinde hinter sich versammeln und einen Golden Globe, einen Emmy, zwei SAG Awards sowie den Respekt der Branche gewinnen können. Es folgten von der Kritik gefeierte Auftritte in „Bleak House“ und „The Fall – Tod in Belfast“. Ihr aktuelles Projekt stellt nun jedoch einen Richtungswechsel für Anderson dar: 2019, im Alter von 50 Jahren, verpflichtete sie sich der Rolle der neurotischen Sexualtherapeutin Dr. Jean Milburn in Netflix‘ Comedy-Drama „Sex Education„.
Im Mittelpunkt der Serie steht Milburns jugendlicher Sohn Otis (Asa Butterfield), peinlich berührt von der sexuellen Offenheit seiner Mutter. Als er mithilfe von Freundin und Schwarm Maeve (Emma Mackey) eine Sex-Beratungsstelle in seiner Schule gründet, erweist sich der Job seiner Mutter jedoch nützlicher als gedacht. Die achtteilige Serie, die sich mit Themen von Masturbation über Sexting bis zu Abtreibung und Homophobie beschäftigt, überschritt Grenzen – und wurde dabei zum Kulthit. In der zweiten Staffel, die am 17. Januar auf Netflix anläuft, prallen Otis‘ Schul- und Privatleben ein für allemal aufeinander, als seine Mutter in einer Schulveranstaltung einen Vortrag hält, der alles verändern wird.
Kurz vor Beginn der neuen Staffel sprachen wir mit Gillian Anderson über ihren exzentrischen Charakter Jean Milburn, ihre #penisoftheday-Posts auf Instagram und ihre nächste Rolle als Margaret Thatcher in „The Crown“.
Jean ist so ein delikater Charakter. Was wollten Sie in der zweiten Staffel noch stärker erkunden?
Gillian Anderson: Ich hatte diese Staffel definitiv mehr, mit dem ich spielen konnte. Ich liebe an Jean, dass sie so schamlos ist, wenn es um Intimität geht – es sei denn, es geht um ihre eigenen intimen Beziehungen mit einem potenziellen Partner. Sie hat keine Grenzen, sie ist unbeherrscht und unangemessen, aber auch voller Widersprüche. Sie ist eine Sex- und Beziehungstherapeutin, die in den Schubladen ihres Sohnes herumwühlt. Ich wollte aber auch erforschen, was manchmal geschieht, wenn wir Frauen älter werden. Man wird womöglich zerstreuter und exzentrischer, und es gibt dieses Element der „Menopausen-Manie“.
Wir wissen aus dem Trailer, dass Jean einen Vortrag in Otis‘ Schule hält. Wie geht er damit um?
Es ist demütigend für ihn. Allein der Gedanke, dass seine Mutter auf dem Schulgelände sein wird, geschweige denn mit seinen KlassenkameradInnen über Sex sprechen wird, ist entsetzlich. Ich glaube, dass diese Veranstaltung das erste Mal ist, dass wir – das Publikum – uns genauso für Jean schämen wie Otis. Das hat mir ein wenig Sorgen bereitet, weil ich mich fragte, ob dies der Figur dienlich wäre. Wollen wir sie nicht einfach nur schräg, lustig und sexy finden? Letztendlich ist es jedoch toll, da Leute, die so selbstbewusst sind, die Dinge [oft] ein wenig zu weit treiben können. Sie ist eine Figur, die das ganze Spektrum menschlicher Schwächen zeigt, was charmant ist. Sie ist nicht perfekt.
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Die Serie hat den Zeitgeist getroffen. Warum war die erste Staffel Ihrer Meinung nach so erfolgreich?
So etwas hatte es zuvor noch nie gegeben. Sie [die Serie] hat es jungen Leuten erlaubt, Gespräche über Dinge zu führen, die sonst als beschämend angesehen wurden. Diese Dinge gehören zu unserem Alltag, doch die Menschen tun so, als würde es sie nicht geben, da sie zu viele Gefühle hervorrufen oder zu viel über uns selbst preisgeben. „Sex Education“ zersprengt all dies. Ich bin in keinster Weise prüde, aber es gibt Szenen in der Sendung, bei denen es selbst mich schaudert. Es ist frech, und das macht es so wunderbar.
Die Serie hat so viele offene Gespräche angeregt. Sprechen Fans mit Ihnen jemals über persönliche Dinge?
Nicht wirklich, aber ich war einmal bei diesem Dinner, bei dem ein ziemlich betrunkener Mann mit mir über Teenage-Masturbation sprechen wollte. Und ich dachte nur: „Ich bin da keine Expertin, Freundchen!“ Aber das war so ziemlich das einzige Mal, dass so etwas passiert ist.
Fans lieben Ihre #yonioftheday- und #penisoftheday-Posts auf Instagram. Wann haben Sie damit angefangen?
Während der ersten Staffel der Show, da es so viele tolle Requisiten in Jeans Haus gab, die wie Penisse und Yonis [Vulvas] aussahen. Ich habe viele von ihnen fotografiert, während wir gefilmt haben, und die junge Frau, die mir mit Social Media geholfen hat, meinte: „Ich glaube, du könntest gesperrt werden.“ Wir waren uns nicht sicher, ob es nach hinten losgehen würde, Penisbilder zu posten, doch bis jetzt war es in Ordnung. Heute schicken mir die Leute Dinge, die sie gesehen haben – Schatten, Pflanzen, im Grunde alles, was wie ein Penis oder eine Vagina aussieht. Manchmal kann es schwer sein, sie zu fotografieren, etwa wenn man in einem Taxi durch London fährt und plötzlich etwas sieht. Ich bin noch nicht an dem Punkt angekommen, an dem ich sage: „Halten Sie das Taxi an!“, aber ich denke, das werde ich noch.
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Jean würde das gefallen. Folgen Ihnen Ihre Kinder auf Instagram oder schauen die Sendung?
Ich habe meine Jüngsten auf Instagram blockiert. Wenn „Sex Education“ endet, könnte sich das jedoch ändern. Einer ist 11 und der andere 13, und ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die Serie immer noch nicht gesehen haben – oder es mir nicht gesagt haben. Da die neue Staffel bald anläuft und das ein Gesprächsthema in ihrer Altersgruppe sein wird, weiß man nie.
Glauben Sie, dass es manchen Menschen immer noch Unbehagen bereitet, dass Jean eine sexuell selbstbewusste ältere Frau ist?
Das könnte schon sein. Ich habe eine ähnliche Erfahrung gemacht, als ich in „The Fall – Tod in Belfast“ mitgespielt habe. Meine Figur riss an ihrem ersten Arbeitstag einen jüngeren Polizisten auf, was alle ziemlich mutig und schockierend fanden. Darüber haben die Leute sogar noch in der dritten Staffel gesprochen. Ich war überrascht, dass es für die Menschen immer noch schockierend war, dass eine Frau in ihren Vierzigern oder Fünfzigern so kühn sein kann, einen jüngeren Mann um ein Date zu bitten – oder dass sie am Ende tatsächlich noch Sex haben könnte!
Hollywood ist bekannt dafür, Frauen ab einem gewissen Alter abzuschreiben. Glauben Sie, dass sich das gerade ändert?
Es ändert sich im Fernsehen. In den letzten 15 Jahren gab es im TV fantastische Hauptrollen für Frauen über 40, sei es in „Big Little Lies“ oder „The Killing“. Wo es sich jedoch nicht geändert hat, ist im Film. Es ist immer noch selten, einen Spielfilm zu sehen, in dem die weibliche Hauptrolle über 40 ist, und wenn, dann ist es wahrscheinlich ein Independent-Film. Doch die Situation verbessert sich, und es ist eine wunderbare Zeit für Frauen in dieser Branche, besonders hinter der Kamera, wo es so viele tolle Regisseurinnen gibt. Es gibt allerdings noch Raum für Wachstum, wenn es um Drehbuchautorinnen und Regisseurinnen von Big-Budget-Filmen geht.
Was denken Sie, warum es diese Diskrepanz zwischen Film und Fernsehen noch immer gibt?
Ich weiß nicht, aber ich denke, dass es ein oder zwei Filme brauchen wird, um dies zu ändern. Als „Brautalarm“ so erfolgreich war, hieß es plötzlich: „Oh mein Gott, ein von und mit Frauen produzierter Film kann Geld verdienen!“ Das führte [2016] zu einem komplett weiblich besetzten „Ghostbusters“. Damit andere Studios nachziehen, muss es ein bestimmtes Filmgenre geben, das erfolgreich ist und zeigt, dass die Leute Kinotickets kaufen. Wir hatten „Wonder Woman“, und nun gibt es mehr Marvel-Filme mit weiblichen Hauptrollen. Als Nächstes wird es mehr Dramen geben. Wir werden dahin kommen.
Als Nächstes spielen Sie Margaret Thatcher in „The Crown“. Wie viel können Sie uns über diese Rolle verraten?
Wir filmen immer noch! Natürlich studiert und beobachtet man alles und liest so viel man kann, wenn man als Schauspielerin in [eine Serie wie] „The Crown“ einsteigt. Aber Tatsache ist, dass die PremierministerInnen in „The Crown“ zwangsläufig durch die Linse der Krone gesehen werden. Einerseits ist es eine außergewöhnliche Gelegenheit, [Thatcher] zu spielen; gleichzeitig habe ich aber das Gefühl, dass wir nur an der Oberfläche dessen kratzen, wer sie war und was sie motiviert hat. Für mich war es ein Riesenspaß und sehr lehrreich.
Die zweite Staffel von „Sex Education“ ist ab heute (17. Januar 2020) auf Netflix verfügbar.