Ich bin heute Morgen einigermaßen entrüstet aufgewacht. Über die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen mithilfe der AfD im Großen, aber auch im Kleinen gab es ein wenig Trubel zu verzeichnen. Wegen einer Handvoll Kommentare unter diesem Artikel von Julia Korbik, der eigentlich helfen sollte. Dabei, aus einem Tief heraus zu finden. Am Ende sollte es aber längst nicht mehr darum gehen, wie wir uns gegenseitig unterstützen, zuhören oder an die Hand nehmen können, sondern im Gegenteil um Whataboutism in seiner gängigsten Form: „Du weißt ja gar nicht, was richtige Probleme sind“, hieß es dort in etwa, und „fängst du dann auch beim nächsten Pickel an zu heulen?“. Vorbei war es plötzlich mit der Empathie. Stattdessen stand da ganz unweigerlich eine der größten Kuriositäten unserer anonymen, digitalen Zeit wie ein dicker Elefant im Raum: Nämlich der Umstand, dass der Mensch bis heute meint, ein Recht auf eine Meinung zu haben, immer und ausnahmslos. Ja, aber! Hat er doch!
Nicht im Namen der Demokratie
Das mag ganz richtig sein. Nehmen wir uns als Werkzeug zum besseren Verständnis doch ein aktuelles Thema zur Hand: Nazis, Faschisten und Rassisten zum Beispiel, die sehen das bekanntlich sehr ähnlich. Da wird Homophobie von den Ausführenden zumeist als „Meinung“ deklariert. Das kann man natürlich zulassen, dass Hass eine Meinung sein darf, meine ich – aber nur, sofern man es als richtig erachtet oder es zumindest in Kauf nimmt, dass andere dafür bluten und sich immer wieder mit verletzenden geistigen Ergüssen Fremder auseinandersetzen müssen. Vor allem jene, die wir doch eigentlich verteidigen und beschützen sollten, vor menschenverachtenden Phrasen, die immer häufiger im Deckmantel der Demokratie-Liebe als absolut sagbar deklariert und dabei gleichsam relativiert werden. „Meinungsfreiheit ist die Grundlage der Demokratie“, heißt es. Sie ist ein wichtiges Gut, eines der wichtigsten sogar. Gerade jetzt, wo Autokraten, Diktatoren, Rechte und Wahnsinnige uns mundtot machen (wollen). Als umso betrügerischer empfinde ich es, Zeugin zu werden davon, wie der politisch aufgeladene Begriff der „Meinungsfreiheit“ ebenso salopp wie leichtfüßig in den Alltag getragen wird und dabei als Legitimierung für verbale Angriffe missbraucht wird. Was nämlich nicht selten ausgespart wird, ist die Fortführung, die Einschränkung dieser Freiheit: Jede*r darf, kann und soll so sein, wie es am besten zu ihm oder ihr passt. Aber natürlich nur, solange dabei niemand anderem geschadet wird. Wo aber fängt der Schaden an? Tatsächlich gibt es rechtliche Grenzen der Meinungsfreiheit, über die fortwährend diskutiert wird, etwa in Anbetracht rechtspopulistischer Provokationen. Dürfen Rassist*innen auf die Straße gehen und mit ihrem Müll hausieren gehen, das Netz mit braunem Dreck zuschütten? Per Gesetzt schon, bis zu einem gewissen Grad eben. Macht es das besser, angenehmer, richtiger? Argumente dafür und dagegen gibt es bekanntlich noch und nöcher. Dennoch steht fest: In meinem Wohnzimmer, meinem Zuhause, dürfen sie das nicht. Und: Auch Arschlöcher sind nicht willkommen, ganz gleich, an was sie glauben.
Was das alles mit Jane Wayne zu tun hat
Jane Wayne soll ein Safe Space sein und bleiben. Ein geschützter Raum, in dem wir und ihr im Austausch miteinander voneinander lernen können sollen, in dem wir Tabus brechen, um anderen zu zeigen, dass niemand allein dasteht, in dem wir offen reden möchten, über Dinge, für die uns sooft die Worte fehlen, über die „man doch eigentlich lieber schweigen sollte.“ Wenn das nicht mehr möglich ist, haben wir verloren. Gegen die, die Hass zum Mittel ihrer Wahl gemacht haben, vielleicht sogar ohne sich selbst im Klaren darüber zu sein. Weil dieses Verhalten anderen Gegenüber, das angeblich als gerechtfertigte Kritik gemeint ist, in Wahrheit aber nicht selten durch respektlose Diffamie gekennzeichnet ist, längst normalisiert ist. Weil sich niemand mehr darüber wundert. Über Trolle, Hate Speech, giftige Pfeilspitzen, die fehlende Differenzierung zwischen Kritik, Unterstellungen und Angriffen. Am wenigsten reflektieren dabei jene ihr Betragen, die selbst am allerbesten darin sind, das Haar in anderer Leute Suppe lauthals heraus zu fischen, um es Gleichgesinnten zum genüsslichen Ablutschen vor die Füße zu werfen. Ob ich übertreibe, fragt ihr euch? Mit den vorangegangenen Vergleichen etwa? Nun. Sie sollen jedenfalls verdeutlichen, dass hier kein Platz für Scheiße ist. Und Scheiße hat bekanntlich viele Gesichter.
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Hater mit Nazis zu vergleichen ist auch nicht das gelbe vom Ei
Ich weiß schon, was nun passiert. Man wird sich jetzt schrecklich darüber echauffieren, dass ich Leute, die uns in unseren Kommentaren „kritisieren“, mit Nazis gleichsetze. Dabei mache ich das gar nicht expliziert und echte Kritik, die ist jederzeit willkommen. Ich warne bloß vor gängigen Mechanismen, die mit Vorliebe von Menschen genutzt werden, mit denen wir alle hoffentlich so gut wie nichts gemein haben wollen. Und jetzt können wir auch gerne wegkommen von dieser Brut des Teufels und uns die Geschehnisse der vergangenen zwei Tage zu Brust nehmen, heranzoomen an uns und unser Umfeld. Julia Korbik schrieb einen Text darüber, wie sie es schafft, dunkle Zeiten zu überwinden – woraufhin ihr unterstellt wurde, sie habe gar keine „echten“ Probleme. Ich fragte: Was sind denn falsche Probleme? Und war derweil fassungslos darüber, wie mit Bewertungen und Spekulationen jeglicher Art jongliert wurde. Wisst ihr, das alles ist nicht neu, es passiert jeden Tag. Bloß lässt sich langsam ein Muster erkennen, weshalb „Raus aus dem Tief“ hier als Exempel herhalten muss. Denn: Wie konnte es sein, dass die Diskussion über besagten Beitrag derart aus dem Ruder geraten und schließlich ins Absurde abdriften konnte? Es mangelte vielen unüberlegt Kommentierenden vor allem an Empathie und Weitsicht. An der Einsicht, dass individuelle „Probleme“ wahrlich schwer gegeneinander aufzuwiegen sind.
„Weil wir alle ganz eigene Päckchen mit uns herumtragen. (…) Die damit einhergehenden Empfindungen sind etwas sehr persönliches und können sehr verschieden wahrgenommen werden. Meist kennen wir die Geschichte der anderen nicht und sollten deshalb Abstand von Bewertungen nehmen. Ziehen wir doch meine jüngste Vergangenheit als Beispiel heran: Ein Hellp-Syndrom, deshalb Frühgeburt, dann Trennung vom Vater des einjährigen Kindes, irgendwann eine neue Beziehungen mit jemandem, der nach drei Jahren über Nacht verschwunden ist, aus der gemeinsamen Wohnung, dann Krankheit, Reha, Überlastungsdepression. Mir geht es jetzt prima. Muss es deshalb aber allen anderen mit ähnlichen Erlebnissen auch spitze gehen? Nein. Andere wären womöglich daran zerbrochen. Oder haben viel Schlimmeres erlebt. Habe ich dennoch ein Recht zu jammern, oder nicht? Und ist es meine Pflicht, das alles in jedem Text zu erwähnen, nur damit man weiß: Der ging es auch mal scheiße. Die „darf“ so reden.“?“
Was ich sagen wollte: Ihr kennt doch die Geschichte der Autorin, die ihr hier gerade angreift, gar nicht. Sie ist schlicht nicht Gegenstand des Beitrags. Gut, ich hätte das alles anders formulieren, mein Beispiel weglassen können. Aber, Überraschung, hinter jedem Wort steckt auch ein Mensch mit Gefühlen. Und so geriet ich in Rage. Wollte eingreifen.
Woraufhin wir gleich in die nächste Katastrophe schlitterten. Eine besonders interessierte Kommentatorin entgegnete:
„Nike Jane, interessant wäre auch die andere Seite zu hören. Schade, dass wir deinen über Nacht verschwunden Partner nicht nach seiner Sicht der Dinge befragen können. Ein so drastischer Schritt muss eine Ursache haben, dem wiederum seine eigenen Probleme und seine eigene Wahrheit zu Grunde liegen.“
Ja, und? Selbst Schuld. Wer so viel Privates in die Öffentlichkeit trägt, muss mit sowas rechnen.
Damit rechnen muss ich, weil Leute so sind. Leider. Aber ich muss es nicht hinnehmen. Weil es hierbei längst nicht mehr um mich geht. Und weil womöglich Menschen mitlesen, die aufgrund eigener Erlebnisse traumatisiert sind.
Ist euch klar, was ein solcher Kommentar in einer Frau auslösen muss, die Schlimmeres erlebt hat als ich? Gemeinte Kommentatorin konnte meine Geschichte nicht kennen, keine Beweggründe des verschwundenen Partners, nichts davon. Was, wenn ich eine dieser vielen Frauen gewesen wäre, die geschlagen, misshandelt und missbraucht werden? Wie hätte ich mich mit vorausgegangener Unterstellung in Frageform, der unausgesprochenen Spekulation, dem Wunsch nach Anhörung der anderen Perspektive gefühlt? Wäre es wirklich meine Aufgabe gewesen, zu erklären, dass ich unschuldig bin? Ist es gerechtfertigt, dass man die Stimme der „anderen Seite“ einfordert, was ja unweigerlich impliziert: Der hat sich sicher aus gutem Grund verpisst. Ist es „in Ordnung“ einer Frau in einer solchen Situation das Gefühl zu geben, nicht das Opfer zu sein, sondern Täterin? Ja! Unsere Gesellschaft sieht das so, oft, im Alltag ebenso wie vor Gericht und vor allem im Internet. Und weil doch genau das so unendlich falsch ist, reden wir heute über #BelieveWomen und #VictimBlaming. Genau deshalb – weil wir alles, was hier geschieht und auch unser eigenes Handeln weiterdenken müssen – bin ich so hart, so harsch, so kompromisslos. Weil ich darauf bestehe, dass auf dieser Seite niemand zu Schaden kommt.
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Ich sei wohl nicht kritikfähig, ging es weiter. Das aber war keine Kritik. Es war ein entwürdigendes Beispiel von unendlicher Übergriffigkeit. Persönliche Befindlichkeiten spielen dabei noch nicht einmal eine Rolle, ich kenne das, mich haut sowas seit neun Jahren nicht aus den Latschen. Dass sich inzwischen aber auch unsere Autorinnen dieser Tirade stellen müssen, akzeptiere ich nicht.
Ein gefährliches Stigma
Deshalb zurück zu den Problemen, die ja gar keine sind oder besser: Sein dürfen. Stichpunkt „Whataboutism“ („Es bezeichnet heute allgemein die Ablenkung von unliebsamer Kritik durch Hinweise auf ähnliche oder andere wirkliche oder vermeintliche Missstände auf der Seite des Kritikers. (…) Das Ziel des als rhetorischen Mittels eingesetzten Verfahrens ist oft, die Position des Gegners zu diskreditieren, ohne seine Argumente zu widerlegen.“) Zudem bin verwundert darüber, wie hier insbesondere Frauen* miteinander umgehen, wie schamlos das eine Elend gegen das andere ausgespielt wird, wie Gefühle abgewunken und belächelt werden, in gewohnt unreflektierter „Ich darf ja wohl noch meine Meinung sagen“-Manier. Klar, darfst du. Manchmal jedoch ist es ratsam, die Klappe zu halten. Ist die Unabdingbarkeit von Empathie tatsächlich so schwer zu verstehen? Ist es derart kompliziert zu kapieren, dass die eigene Meinung nicht immer von Bedeutung ist? Dass man sie haben darf, aber nicht immer aussprechen sollte? Dass sie hin und wieder fehl am Platz ist? Dass sie im schlimmsten Fall nicht bloß verletzend ist, sondern gefährlich werden kann?
Lotta, eine andere Leserin, fand diesbezüglich sehr passende Worte und fasste im Grunde sehr gut zusammen, wie die kleine Mücke „Hast du keine echten Probleme?“ schnell zum Elefanten wird:
(…) Depressionen entstehen nicht durch die „Schwere“ von irgendwelchen Problemen (die natürlich auch völlig subjektiv sind), sondern kommen durch dauerhaften negativen Stress, Veranlagung, tragische Lebensereignisse und und und. (…) Depressionen sind eine sehr ernst zu nehmende Erkrankung, die bekanntermaßen mit dem Tod enden kann. (…) Was sagt ihr eigentlich jemandem, der sich das Bein bricht? Jetzt stell dich nicht so an, andere Leute sitzen im Rollstuhl? (…) Es ist schon schwer genug, sich einzugestehen, dass man bei depressiven Verstimmungen oder Depressionen Hilfe braucht, die Suche nach einem Therapeuten/ einer Therapeutin kann sehr mühsam sein. Wisst ihr warum? Weil neben Therapeut*innenknappheit unsere Gesellschaft uns immer wieder das Stigma einredet, dass man mit Disziplin und Zusammenreißen und „anderen geht es viel schlimmer“ diese Probleme selbst in den Griff kriegt. Dass es die eigene Schuld ist, wenn es einem schlecht geht, dass es an einem selbst liegt, es zu ändern. Das ist absolut falsch. Ein schwerwiegender Irrglaube. So entsteht ein Teufelskreis, in den man immer tiefer herein rutscht.“
Ein fataler Irrglaube
„Das Oberteil ist wirklich unvorteilhaft«, »ich find’s schade, dass du dafür deine Brüste so zeigen musst«, »selbst Schuld wenn du dich SO im Internet zeigst!«
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Und wieder, wie ein Mantra, das uns eine kränkelnde, gaffende, immerzu bewertende Gesellschaft beigebracht zu haben scheint: „Heult nicht rum, dann ladet Leute halt nicht in euer Wohnzimmer ein, wer in der Öffentlichkeit steht, muss Kritik und Angriffe abkönnen“. Was für eine bescheuerte, giftige, absurde Annahme, welch kolossaler Irrglaube. Gar nichts müssen unsere Autorinnen und auch all die anderen Menschen nicht, die ohne dabei irgendwem weh zu tun für eine Öffentlichkeit schreiben oder singen oder schauspielern oder existieren. Einzig und allein ihr müsst. Wir müssen. Wir alle. Du und ihr und ich. Dringend damit aufhören, es als unser elementares Recht anzusehen, destruktive Gedanken im Netz zu hinterlassen, ganz gleich, ob es um persönliche Geschichten, Gedanken, oder gar äußere Erscheinungssbilder geht.
Zur Verdeutlichung: Ich erinnere mich noch allzu gut an die Kommentarspalte einer großen Zeitung, die das Thema Transphobie beleuchtete. Darin hieß es: „Der geschminkte Typ ist doch selbst Schuld, dass er auf die Fresse kriegt, wenn der so rumläuft.“ Merken wir alle, oder? Die Verschiebung der Moral in unserer Gesellschaft. Nein, nicht der „Typ“ muss sein Verhalten, sein Äußeres, sein Tun oder Machen ändern. Sondern sein Umfeld. Das zu begreifen fällt vielen schwer. Im Großen wie im Kleinen.
Empathie, Respekt und Akzeptanz werdend zunehmend vermisst – in ganz unterschiedlichen Diskursen.
Melodie Michelberger kann davon ein Lied singen:
Melodie erinnert uns außerdem an etwas, das im Grunde klar sein sollte und dennoch furchtbar gern vergessen wird. Vielleicht, weil es so unendlich einfach ist:
„In jedem Körper steckt ein Mensch mit Träumen, Gefühlen, Gedanken, Hoffnungen und Herzschmerz, der es hundertprozentig verdient hat, respektiert zu werden.“
Exakt aus diesem Grund kann ich uns selbst und unseren Leser*innen tatsächlich nur bis zu einer gewissen Grenze ein Recht auf eine Meinung einräumen – diese Grenze hört da auf, wo Worte nicht mehr konstruktiv oder relevant sind, sondern schlicht verletzend.
Wir lassen hier kein Victim Blaming zu. Kein Mum Shaming. Keinen Rassismus. Keine wilden Spekulationen. Keine Anmaßungen. Keine Übergriffigkeiten. Keine Hassreden.
Das Gute ist: Es ist überhaupt nicht schwer, sich dran zu halten, nett oder zumindest neutral zu bleiben. Es ist im Prinzip nur eine einzige Frage, die wir uns alle vor jedem Absenden eines Kommentars stellen sollten: Wie würde ICH mich damit fühlen? Und nein: „ICH würde sowas ja gar nicht in die Öffentlichkeit pfeffern“ gilt nicht. Sonst wäre es sehr still in dieser digitalen Welt, die eben auch ziemlich viel Gutes in sich trägt. Danke.