8 Frauen, die unser Verständnis der menschlichen Psyche verändert haben

Für unser Verständnis der Welt und unserer Mitmenschen sind die Erkenntnisse aus Psychologie und Psychoanalyse essenziell. Zu Weltruhm haben es in diesen Bereichen allerdings – wie in so vielen anderen auch – hauptsächlich Männer gebracht. Ihre weiblichen Kollegen hingegen wurden oft nur als hübsches Beiwerk in ihren intellektuellen Zirkeln gesehen oder als nützliche Helferinnen, denen man aber nicht wirklich eine eigene Stimme zutraute. Dennoch gelang es einigen Pionierinnen im 18. und 19. Jahrhundert, grundlegende Beiträge zu leisten, ohne die viele Erkenntnisse und Behandlungsmöglichkeiten, die heute angewandt werden, undenkbar gewesen wären. Teils gerieten ihre Namen in Vergessenheit, teils werden ihre Geschichten und Verdienste erst jetzt in den Fokus gerückt. Anlässlich des Mental Health Month stellen wir einige dieser Frauen vor.

Lou Andreas-Salomé © Getty Images

Lou Andreas-Salomé, *1861 in St. Petersburg, Russland; †1937 in Göttingen

Der Name Lou Andreas-Salomé taucht heute aus mehreren Gründen in Geschichtsbüchern auf. Zum einen, weil die russische Adelige in den höchsten intellektuellen Kreisen ihrer Zeit geschätzt wurde, was nicht für viele Frauen galt, zum anderen weil ihr viele große Namen – darunter Paul Rée, Friedrich Nietzsche und Rainer Maria Rilke – verfielen und sich von ihren unerfüllten Schwärmereien zu Werken inspirieren ließen.

Nicht zuletzt, weil sie ein unglaublich selbstbestimmtes Leben führte, das so gut wie alle Mitte des 19. Jahrhunderts existierenden bürgerlichen Moralvorstellungen infrage stellte. Viel seltener wird hingegen an Lou Andreas-Salomés späte Verdienste als Psychoanalytikerin erinnert. Mit 50 Jahren geriet sie in Wien in die Kreise um Sigmund Freud und ließ sich von ihm zur ersten Psychoanalytikerin überhaupt ausbilden. Zwischen den beiden entwickelte sich eine große Vertrautheit, in zwei Jahrzehnten tauschten sie über 200 Briefe aus. Salomé eröffnete eine eigene psychoanalytische Praxis in Göttingen und widmete sich in ihren eigenen Schriften den Themen Narzissmus und Geschlechterbeziehung. Ihre poetisch-metaphorische Sprache brachte ihr den Beinamen „Dichterin der Psychoanalyse“ ein.

Mary Whiton Calkins, *1863 in Hartford, Connecticut; †1930 in Newton, Massachusetts

Mary Whiton Calkins war eine Ausnahmeerscheinung. Zu einer Zeit, als viele amerikanische Universitäten noch keine weiblichen Studierenden zuließen, gelang ihr schon in jungen Jahren eine wissenschaftliche Karriere. Am Wellesley College in Massachusetts baute sie den ersten Psychologie-Lehrstuhl auf und richtete eines der ersten Experimental-Laboratorien in den USA ein. Zu ihrem Spezialfeld wurde die Traumforschung. Anders als Sigmund Freud vertrat sie dabei die Überzeugung, dass Träume die Personen, Orte und Ereignisse der kurz zurückliegenden Wahrnehmung reproduzieren. Mit ihren Studierenden führte sie Experimente zur Sinnes- und Raumwahrnehmung durch. Zu ihren Verdiensten gehört außerdem die Entwicklung einer der ersten Persönlichkeitstheorien, nach der das Selbst nicht vornehmlich triebgesteuert, sondern bewusst und zielgerichtet handelt.

Trotz ihrer Erfolge bekam Mary Whiton Calkins zu spüren, dass sie den Männern in ihrem Feld nicht gleichgestellt war. 1895 legte sie in Harvard eine Prüfung ab, um den Doktorgrad zu erreichen. Obwohl sie alle Aufgaben bestand, blieb er ihr verwehrt. Der Grund: Die Universitäts-Leitung schloss Frauen generell von dem Titel aus. Erst zehn Jahre später bekam Mary Whiton Calkins für ihre Arbeit Anerkennung, als sie als erste Frau zur Präsidentin der American Psychological Association gewählt wurde.

Melanie Klein, *1882 in Wien; †1960 in London

Als die Österreicherin Melanie Klein mit Anfang 20 heiratete und schwanger wurde, verwarf sie (nicht ganz freiwillig) ihren ursprünglichen Plan, Medizin zu studieren. Stattdessen beschäftigte sie sich intensiv mit der gerade erst aufgekommenen Psychoanalyse und verfolgte unter diesen Erkenntnissen das Aufwachsen ihrer Kinder mit. Heute gelten ihre Aufzeichnungen als Pionierarbeiten der Kinderpsychologie und der Objektbeziehungstheorie.

Melanie Klein © Getty Images

Ihre Schrift „Die Psychoanalyse des Kindes“ lenkte als eine der ersten überhaupt den Blick auf die frühkindliche Entwicklung und die Beziehung von Mutter und Kind. Klein vertrat die These, dass die Art und Weise, wie ein Mensch als Erwachsener die Welt wahrnimmt, mit welchen Erwartungen er an sie herantritt und wie er etwaige Schicksalsschläge verkraftet oder auch nicht, in seiner Beziehung zu frühen Bezugspersonen („Objekten“) begründet liegt. Von einem heutigen Standpunkt aus erscheint diese Sichtweise vielleicht selbstverständlich, zu ihrer Zeit war sie aber revolutionär, auch weil Melanie Klein die Entwicklung von Schuldgefühlen und eines Über-Ichs viel früher ansetzte, als es in der Freud’schen Theorie der Fall war. Dadurch kam es zwischen ihr und Sigmund Freuds Tochter Anna, die sich ebenfalls der Kinderpsychologie gewidmet hatte, in den 1940er-Jahren zu einer solchen Auseinandersetzung, dass sich die psychoanalytische Lehre in drei Lager spaltete, die Kleinianer, die Anna-Freudianer und die Neutralen.

Helene Deutsch, *1884 in Przemyśl, Galizien; †1982 in Cambridge, Massachusetts

Ihr ganzes Leben über brach Helene Deutsch mit den Erwartungen, die an sie gerichtet waren. Als Tochter einer wohlhabenden Familie schloss sie sich früh den Sozialisten an und gründete in ihrer Heimatstadt Przemyśl die erste Organisation für Arbeiterinnen. Später zählte sie zu einer der ersten Medizinstudentinnen an der Universität Wien. Bald verlagerte sich ihr Interesse aber in Richtung der Psychoanalyse. Nachdem sie sich wegen persönlicher Probleme einer einjährigen Analyse bei Sigmund Freud unterzogen hatte, wurde sie Teil seiner Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.

Als erste Psychoanalytikerin überhaupt spezialisierte sich Helene Deutsch auf die weibliche Psyche und Sexualität. In ihrem Hauptwerk „Psychologie der Frau“ entwarf sie anhand von Fallgeschichten, literarischen Beispielen und ihrer Selbstanalysen so manche Theorie, die heute eher rückständig erscheint: So besagt eine ihrer Thesen, dass zum Wesen der Frau grundsätzlich der Masochismus gehöre. Obwohl dies schon bei ihren ZeitgenossInnen auf Kritik stieß, wurde die Theorie trotzdem zu einem Ausgangspunkt vieler feministischer Theoretikerinnen wie beispielsweise Simone de Beauvoir.

Sabina Spielrein © Getty Images

Sabina Spielrein, *1885 in Rostow am Don, Russland; †1942 ebenda

Sabina Spielreins Interesse an der Psychoanalyse lag in ihrer eigenen Geschichte begründet. Mit 19 Jahren wurde die Tochter einer vermögenden russisch-jüdischen Familie wegen „Hysterie“ in die Schweizer Klinik Burghölzli eingewiesen, in der sie von Carl Gustav Jung, dem Vordenker der analytischen Psychologie, behandelt wurde. Dieser begann über ihren Fall einen Briefwechsel mit Sigmund Freud. Zwischen Jung und Spielrein entwickelte sich ein verworrenes Verhältnis, das Sigmund Freud schlussendlich zu seiner „Lehranalyse“ inspirierte, nach der sich Analytiker zuerst selbst einer Analyse unterziehen sollten, bevor sie Patienten behandeln.

1911 promovierte Spielrein als erste Frau überhaupt zu einem psychoanalytischen Thema. Ihre Arbeiten zu schizophrenen Psychosen und Träumen gelten heute als eine Pionierleistung in der Erforschung psychotischer Erkrankungen.

Weil ihre Beziehung zum verheirateten Carl Gustav Jung keine Zukunft hatte, zog es Sabina Spielrein nach Wien, wo sie im Kreis von Sigmund Freud die Psychoanalyse weiter vorantrieb. 1912 kehrte sie in ihre Heimatstadt Rostow zurück und heiratete den Arzt Pawel Scheftel. In ihrem Tagebuch schrieb sie dazu emotionslos: „Dr. Paul Scheftel geheiratet. Fortsetzung folgt.“ Als deutsche Truppen die Stadt während des Zweiten Weltkriegs 1942 einnahmen, wurden die dort lebenden Juden, darunter auch Anna Spielrein und ihre beiden Töchter, in einer Schlucht zusammengetrieben und erschossen. Die Dreieckskonstellation von Anna Spielrein, Carl Gustav Jung und Sigmund Freud inspirierte später den kanadischen Regisseur David Cronenberg zu seinem Film „Eine dunkle Begierde“ mit Keira Knightley in der Hauptrolle.

Mamie Phipps Clark, *1917 in Hot Springs, Arkansas; †1983 in New York

Wenn in der Geschichte der Psychologie und -analyse Frauen ohnehin unterrepräsentiert sind, gilt das für afroamerikanische Frauen umso mehr. Bemerkenswert ist deshalb die Geschichte von Mamie Phipps Clark, die 1917 zu Zeiten der Rassentrennung in Arkansas geboren wurde. Trotz ihrer hohen Intelligenz war es ihr nicht erlaubt, renommierte Schulen oder Universitäten zu besuchen, die damals fast ausschließlich Weißen vorbehalten waren. Doch Mamie Phipps Clark ging ihren eigenen Weg: Während sie an der Howard University in Washington, einer afroamerikanisch geprägten Hochschule, studierte, veröffentlichte sie eine Studie mit dem Titel „Die Entwicklung des Ich-Bewusstseins bei schwarzen Vorschulkindern“ und lieferte darin den wissenschaftlichen Beleg dafür, wie die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe das Selbstverständnis eines Kleinkinds prägt.

Berühmt wurde der von ihr entworfene „Doll Test“. Dazu zeigte sie Kindern an Schulen mit und ohne Rassentrennung weiße und schwarze Puppen und stellte dabei die Fragen: Mit welcher Puppe willst du lieber spielen? Ist diese Puppe hübsch? Ist sie lieb? Es stellte sich heraus, dass afroamerikanische Kinder, die getrennt von weißen Kindern unterrichtet wurden, sich selbst zwar mit der schwarzen Puppe identifizierten, sie aber als hässlich und böse wahrnahmen. Die Ergebnisse des Tests spielten später in den Prozessen Brown v. Board of Education eine wichtige Rolle, die dazu führten, dass der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten 1954 die Rassentrennung an amerikanischen Schulen aufhob.

Mamie Phipps Clark © Getty Images

Margarete Mitscherlich, *1917 in Gravenstein; †2012 in Frankfurt am Main

Wenn heute in Deutschland von einer Aufarbeitung des Dritten Reichs gesprochen werden kann, dann ist das zu großen Teilen Margarete Mitscherlich zu verdanken. Während sie am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt am Main lehrte, veröffentlichte die Psychoanalytikerin 1967 gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich, ebenfalls Psychoanalytiker, das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“, das in Deutschland einen Skandal auslöste, weil es Themen ansprach, die in der noch immer traumatisierten Nachkriegsgesellschaft als Tabu galten.

Margarete Mitscherlich © ddp

So wurde darin zum ersten Mal das Phänomen des Massenwahns analysiert. Außerdem ging das Paar am Beispiel Deutschlands der Frage nach, wie Einzelne und die Masse die (Mit-)Schuld an Verbrechen verarbeiten beziehungsweise sie verdrängen. Margarete Mitscherlich widmete diesen Themen ihr ganzes Leben. In ihrem Buch „Das Ende der Vorbilder“ von 1978 untersuchte sie, welche Rolle der Akt der Idealisierung im Aufwachsen eines Menschen einnimmt, später widmete sie sich dem Rollenverhalten der Frau in der Politik und in der Emanzipationsbewegung, in der sie sich selbst engagierte. In der allerersten Ausgabe des Magazins „Emma“ von 1970 war Margarete Mitscherlich eine der Frauen, die offen zu dem Satz standen: „Ich bin Feministin.“

Marsha Linehan, *1943 in Tulsa, Oklahoma

Die Kämpfe der menschlichen Psyche, von denen sie später schrieb, erfuhr Marsha Linehan zuerst an sich selbst. Als drittes von sechs Kindern eines Ölarbeiters wuchs sie in Oklahoma auf. Im Alter von 17 begann sie, sich selbst zu verletzen, und wurde in das Institute of Living, eine psychiatrische Klinik, eingewiesen. Dort wurde die Fehldiagnose Schizophrenie gestellt, und für Marsha Linehan begann eine über zwei Jahre andauernde Tortur, während der sie an ihr Bett gefesselt und mit Elektroschocks traktiert wurde. Schließlich gelang es ihr aus eigener Kraft, die Borderline-Störung, unter der sie tatsächlich litt, in den Griff zu bekommen.

Aus der Klinik entlassen, arbeitete sie tagsüber bei einer Versicherungsgesellschaft und nahm an Abendkursen in Psychologie teil, bis sie 1971 promovierte. Aus dem theoretischen Wissen und ihren eigenen Erfahrungen als Patientin entwickelte sie die dialektisch-behaviorale Therapie, mit der bis heute Borderline-Erkrankte behandelt werden. Marsha Linehan prägte darin den Begriff des „Invalidierens“: Kinder, die in einem Umfeld aufwachsen, in dem ihre Gefühle dauerhaft missachtet oder verdreht werden, entwickeln Nivellierungsmechanismen, die es ihnen später unmöglich machen, ihre eigenen Emotionen zuzulassen und ihnen zu vertrauen.

Disclaimer:

Dies ist kein ärztlicher Ratgeber. Es besteht keine Garantie für Vollständigkeit. Sollten Sie Hilfe benötigen, kontaktieren Sie die Telefonseelsorge unter 0 800/111 0 111 und 0 800/111 0 222 (kostenlos, anonym und rund um die Uhr erreichbar) oder wenden Sie sich an Ihren Arzt. Anlaufstellen finden Sie hier.

Dieser Text von Ann-Kathrin Riedl stammt aus unserer VOGUE COMMUNITY und erschien im Original bei der deutschen Vogue.

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