Bild © Shai Levy
Meine Tochter Etta und ich saßen im Bett, eingekuschelt in meine dicke Daunendecke, und suchten ein Kostüm. Es musste selbstverständlich das der Königin Esther sein, der heute ein ganzes Fest im Judentum gewidmet ist, nämlich Purim. An Purim verkleidet man sich, trinkt viel Alkohol (wenn man erwachsen ist), hat Rasseln dabei (wenn man ein Kind ist), um Krach zu machen, und isst die sogenannten Haman-Taschen, ein dreieckiges Gebäck, das mit Pflaumenmus gefüllt ist. Nein, Purim ist nicht Fasching. Wenn, dann hat sich aus dem Purim-Fest irgendwann einmal Fasching entwickelt. Der feministische Ansatz, den Purim in hohem Maße prägt, wurde allerdings nicht übernommen. Pech für den Fasching. Gut für Purim.
Die Ursprungsgeschichte von Purim geht so: Vor 2500 Jahren lebten Juden unter anderem im Persischen Reich in der Diaspora. Als Diaspora wird eine z. B. konfessionelle Minderheitsgemeinschaft bezeichnet, etwa das jüdische Leben außerhalb Israels. Der persische König Ahasveros heiratet die schöne Esther, eine Jüdin, die ihre Herkunft verheimlicht. Aber Esther ist nicht nur schön, sondern vor allem klug. Sie hat einen Vetter namens Mordechai, der als hoher Beamter am Hof des Königs arbeitet. Haman, der höchste Regierungsbeamte des Königs, fordert von den persischen Juden eine öffentliche Unterwerfung und will, dass Mordechai sich vor ihm verbeugt. Aber Mordechai verweigert diese Demutsgeste, weil Juden sich nur vor Gott verbeugen dürfen und sonst vor niemandem. Haman dreht durch und will nicht nur Mordechai umbringen lassen, sondern mit einem Mal auch alle Juden des Persischen Reiches. Esther erfährt davon und geht zum König. Riskant, denn darauf steht eigentlich die Todesstrafe, da man den König nicht ungefragt besuchen darf. Als sie vor ihm steht, macht sie nicht viel, außer sehr traurig zu gucken und Ahasveros und Haman anschließend auf zwei Festen so gegeneinander auszuspielen, dass der König anschließend davon überzeugt ist, dass unter Hamans Plan auch das persische Volk leiden wird. Er beschließt, Haman hängen zu lassen, und zwar an jenem Galgen, der für Mordechai gedacht war. Die persischen Juden überleben dank der schlauen Esther. |
Ein feministischer Akt, der seinesgleichen sucht, und eines von nur zwei jüdischen Festen, bei denen es für die Rettung keine Mithilfe von Gott gebraucht hat.
Ich gab in der Online Shop Suchleiste „Königin Esther, Kostüm, Mädchen“ ein. In der ersten Reihe erschienen: Alice im Wunderland, eine Native Americans und Prinzessin Belle. Aber keine Esther. Auch bei Google gab ich mein Bestes, erhielt aber dasselbe Ergebnis. Wo auch immer ich suchte, ich fand kein einziges Kostüm, das die Königin zeigte, die die persischen Juden vor 2500 Jahren gerettet hatte. Das Einzige, was es gab, war ein Esther-Erwachsenenkostüm, was aus den USA angeliefert werden müsste. Für Unmengen Lieferkosten und Purim 2021.
Ich dachte, es ist nicht einfach, Jude in Deutschland zu sein. Die meisten denken an die sechs Millionen Toten und daran, dass ein Teil der Kultur im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Aber die Lebenden? Die spielen einfach keine Rolle. Nicht einmal ihre wichtigsten Feste. Wie Purim eben.
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Ich erinnerte mich daran, dass ich jahrelang dünne Kerzen für den Weihnachtsbaum in Vorräten kaufte, um an Channuka auch meine Channukia benutzen zu können. Einfach, weil es nirgendwo die speziellen Channuka-Kerzen gab. Ich brachte sogar mal welche aus Tel Aviv mit. Mittlerweile kaufe ich sie in dem einzigen koscheren Supermarkt in Berlin-Mitte.
Etta scrollte traurig am iPad herum. „Was ist denn nun mit meinem Kostüm, Mama?“, fragte sie. Ich hatte keine Antwort. Es gab keinen einzigen Shop – ich meine nicht einmal online –, der Ettas Identität Raum schenkte, der sie in ihrer Religionsausübung unterstützte und die längst existierende Transkulturalität wirklich lebte und nicht nur davon laberte. Dabei sind wir 200 000 Juden in Deutschland. Genauso viele, wie vor 75 Jahren ermordet wurden. Wir sind pluralistisch, kommen aus Israel, Osteuropa, Amerika, Ost- und Westdeutschland. Man feiert uns gerne im Ausland. Redet auf großen internationalen Veranstaltungen davon, wie stolz man auf uns sei. Trauert um unsere Vorfahren am 9.11. und 27.1., indem man irgendwelche Kränze vor irgendwelchen Gedenkstätten abwirft. Man nennt uns sogar oft und gerne „Geschenk“, aber dafür sorgen, dass man ohne Komplikation die jüdischen Traditionen auch wirklich ausleben kann, das ist echt ein bisschen viel verlangt von Deutschland.
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„Mama!“, sagte Etta wieder. „Was ziehe ich denn jetzt an?“ Ich wurde panisch. Auch ein bisschen sauer. Entschied mich, diese Kolumne zu schreiben, und googelte gleichzeitig „Queen Esther Costume“. Unendlich viele englischsprachige Seiten erschienen, israelische Blogs, auf denen die zehn besten Esther-Kostüme gezeigt wurden, US-amerikanische Magazine, die Nähanweisungen raushauten, und englische Pinterest-Channels, die Accessoires-Tipps vorstellten. Also ließ ich mich von jenen Seiten inspirieren, die schon mal von jüdischer Kultur und nicht nur vom Holocaust gehört hatten, bestellte ein lila Kleid und eine goldene Krone.
„Take this, Germany“, sagte ich laut und gab Etta einen dicken Kuss.