Das Corona-Virus (rebranded als #Covid_19) hat Auswirkungen auf uns alle. Auf unser Leben im Allgemeinen und unsere Jobs, Finanzen und Beziehungen im Speziellen. Überrascht hat mich aber doch, wie sehr das verdammte Virus meine Beziehung zu meiner Familie – vor allem zu meinen Eltern und Großeltern – beeinflusst. Dazu muss man wissen: Ich habe grundsätzlich ein gutes bis hervorragendes Verhältnis zu meiner Familie, telefoniere quasi täglich mit meinen Eltern, melde mich regelmäßig bei meinen Großeltern und stehe in ständigem Kontakt mit meiner Schwester. So weit, so gut. Nun ist da aber dieses Virus – und das sorgt dafür, dass ich mich im Umgang mit der lieben Familie plötzlich sowohl erwachsener als auch kindlicher fühle als sonst.
OK Boomer
Erwachsener weil, nun, meine Eltern sich angesichts einer globalen Pandemie erstaunlich uneinsichtig zeigen. Ein Problem, das nicht nur ich zu haben scheine: Eine angenervte Freundin berichtete davon, dass ihre Eltern weiterhin einen nächste Woche stattfindenden Geburtstag planen sowie ein großes Ostereiersuchen für die Enkel*innen, sich im Supermarkt zum Plausch mit Bekannten treffen und kritische Einwände mit einem fröhlichen „Wir passen doch auf!“ wegwischen. In einem New Yorker-Artikel mit dem schönen Titel Convincing Boomer Parents To Take The Coronavirus Seriously schreibt Michael Schulman über seine verzweifelten Versuche, seine Eltern zum Zuhausebleiben zu überreden:
“This role reversal was . . . novel. I still think of my parents as the grownups, the ones who lecture me about saving for retirement and intervene in squabbles with my little sister. It took a pandemic to thrust me into the role of the responsible adult and them into the role of the heedless children. I’m thirty-eight, and my mother and father are sixty-eight and seventy-four, respectively. Neither is retired, and both are in good shape. But people sixty-five and older—more than half of the baby-boomer population — are more susceptible to covid-19 and have a higher mortality rate, and my parents’ blithe behavior was as unsettling as the frantic warnings coming from hospitals in Italy.”
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Das Problem mit meinen Eltern ist, dass sie selbst durchaus davon überzeugt sind, alles richtig zu machen. „Wir bleiben zu Hause“ verkündeten sie gestern am Telefon. Der Ausflug in den Baumarkt, um Farbe für das Arbeitszimmer zu besorgen oder das Abendessen bei Freund*innen am Wochenende zählen für sie nicht, denn: „Wir halten Abstand!“ Dass Abstand halten in einer Privatwohnung, wo das listige Virus auf diversen Oberflächen lauern kann, keine Garantie dafür ist, dass man gesund bleibt – dieser Einwand meinerseits wurde mit beleidigtem Schweigen quittiert. Innerlich seufzte ich: OK Boomer. Dabei begreifen meine Eltern den Ernst der Lage sehr wohl, aber social distancing bedeutet für sie eben das, was sie darunter verstehen wollen.
Als ich zu meinem 72-jährigen Vater sagte, er müsse aber wirklich auf sich aufpassen, kicherte (!) er: „Das ist ja nur für alte Leute gefährlich!“ Hö hö. Diese alten Leute aber, nämlich meine Großeltern, werden von meiner Mutter nahezu täglich besucht. „Ich warte nur darauf, dass Mama Oma und Opa mit Corona infiziert“ schrieb ich frustriert meiner Schwester und die antwortete: „Bitte beschwör es nicht!“ Darauf angesprochen, ob es denn wirklich sein muss, einer 87-Jährigen und einem 92-Jährigen in Zeiten wie diesen täglich einen Besuch abzustatten, kam, wie erwartet, eine verschnupfte Antwort: „Die brauchen ja Lebensmittel!“ Klar, aber Lebensmittel kann man auch vor die Tür stellen.
Plötzlich wieder Kind
Das alles macht mich langsam, aber sicher, verrückt. Zumal ich mir selbst in der Rolle der nörgelnden, vernünftigen Erwachsenen so gar nicht gefalle. In der Rolle des ewigen Kindes aber auch nicht – und genau darin finde ich mich dank Corona wieder zunehmend. Klar, in den Augen der Eltern und Großeltern wird man wohl nie so richtig erwachsen. Meine verstorbene Großmutter kniff auch sämtlichen Erwachsenen zur Begrüßung liebevoll (aber schmerzhaft) in die Wange: „Gut siehst du aus!“. Momentan aber fühle ich mich mehr als Kind denn je. Sprich: Alle machen sich Sorgen. Dass ich freiberuflich bin, findet in meiner Familie schon in normalen Zeiten niemand so richtig toll, weil, unsicher und überhaupt: die Rente! Nun ist da aber Corona und täglich erreichen mich besorgte Nachrichten meiner Mutter: „Brauchst du Geld? Sei ganz ehrlich!“ Ich weiß, was für ein enormes Privileg es ist, eine Familie zu haben, die mich finanziell unterstützen kann, sollte es notwendig sein. Aber ich will und werde schon klarkommen, das habe ich mehrfach betont. Ich habe dargelegt, wie ich finanziell für Krisenzeiten vorgesorgt habe, dass es momentan zwar nicht ideal, aber auch nicht ganz furchtbar ist. Ja, alle meine Veranstaltungen wurden abgesagt. Ja, das Geld fehlt. Aber ich lebe – glücklicherweise – nicht nur von Veranstaltungen.
Diese Dinge erkläre ich meiner Familie, wieder und wieder. Und trotzdem heißt es, wieder und wieder: „Wir machen uns Sorgen!“ Ich mache mir auch Sorgen. Und so sehr ich es schätze, dass meine Eltern mir helfen wollen – ernst genommen fühle ich mich von ihnen gerade nicht. Sie sind, so scheint mir, fest davon überzeugt, dass ich ihnen aus falschem Stolz etwas verschweige. Nämlich, wie schlimm es tatsächlich um mich bestellt ist. Meine Oma fragt sowieso seit Jahren, jedes Mal, wenn ich von einer meiner Veranstaltungen (eine Lesung, ein Vortrag) berichte: „Wirst du denn auch dafür bezahlt?“ Ja, Oma, werde ich, denn das ist mein Job. Warum, das scheint die ewige Frage zu sein, die meine Familie umtreibt, kann das Kind sich nicht einfach eine gutbezahlte Festanstellung suchen? Warum muss es darauf beharren, freiberuflich zu arbeiten? Man sieht ja, was dabei rauskommt!
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Und so ist, dank Corona, momentan jedes Gespräch mit meiner Familie eine Art Verjüngungskur. Nie fühle ich mich mehr wie eine 12-Jährige, als nach einem Vortrag meines Vaters darüber, wie ich welche Finanzhilfen beantragen soll. Gleichzeitig lässt das Virus mich rasant altern – nicht nur, weil es mir Sorgenfalten in die Stirn gräbt, sondern weil ich mich selten (und in durchaus selbstgerechter Weise) verantwortungsvoller und erwachsener gefühlt habe. Wo wird das alles enden? Werde ich in ein paar Wochen oder Monaten blinzelnd ins Sonnenlicht treten, mit dem Körper einer 32-Jährigen und dem Gesicht einer 70-Jährigen? Wird im Verhältnis zu meiner Familie wieder alles so, wie es vor Corona war? Oder – und das ist meine Befürchtung – verstärkt Corona einfach gewisse Tendenzen und Konflikte, die sowieso schon da waren? Bei meiner Familie… und bei mir?