Ich weiß nicht, ob ihr es schon gehört habt, aber: Shakespeare schrieb King Lear, während er sich wegen der Pest in Quarantäne befand. Isaac Newton, ebenfalls pestbedingt in Selbstisolation, entwickelte die Grundideen für seine großen Theorien in Physik und Mathe. Nur zwei von vielen Beispielen, die gerade im Internet kursieren und die zeigen: Eine globale Pandemie kann zu ungeahnten Kreativitäts- und Aktivitätsschüben führen. Mehr noch: Eine globale Pandemie sollte produktiv genutzt werden.
Die sozialen Medien sind voll mit Menschen, die sich durch Klassiker der Weltliteratur lesen, sich endlich ihrem eigenen Romanvorhaben widmen, eine neue Sprache lernen, ein Projekt starten, an Online-Coachings teilnehmen, ihr Portfolio überarbeiten und und und. Und warum auch nicht? Ablenkung wird dringend benötigt, gerade wenn Treffen mit Freund*innen, ein Besuch im Café oder Fitnessstudio, ein Bummel durch die Läden – sprich: alles, was man sonst eben so macht – wegfallen und einem zu Hause so langsam die Decke auf den Kopf fällt. Vielen geht es besser, wenn sie sich mit etwas beschäftigen, sich ablenken, wenn sie Routinen haben und den Eindruck, zumindest ein paar Dinge kontrollieren zu können. Ich weiß das, ich gehöre dazu.
Fetischisierung von Produktivität
Es geht mir nicht darum, Copingstrategien – die für jede*n anders aussehen – zu kritisieren. Was mich aber stört, ist das allgegenwärtige Mantra, wir sollten „das Beste“ aus der Situation machen und die dahinterstehende Idee, dass sich aus allem irgendwie Gewinn schlagen lässt. Denn letztendlich wird eine ohnehin stressige Situation so noch stressiger. Weil neben einer globalen Pandemie da jetzt mehr oder weniger eine Verpflichtung ist, diese Zeit möglichst produktiv zu nutzen und zu optimieren, an sich zu arbeiten, sich fit zu machen für die Zeit nach Covid-19. Wann auch immer das sein wird.
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Die Coronakrise mag momentan so ziemlich alles durcheinanderwirbeln, unsere Sozial- und Arbeitsleben, die Wirtschaft, die Politik. Was davon aber erstaunlich unberührt bleibt, ist die Fetischisierung von Produktivität. Anders gesagt: Eine globale Pandemie sollte kein Grund sein, nicht das Beste aus sich rauszuholen, zu Hause weiterzuarbeiten wie sonst auch, nein, sogar noch mehr als sonst! Das ist hustle culture in ihrer absurdesten Form. Weltweit legen Unternehmen (oder sogar Regierungen) die absurdesten Regeln fest, um sicherzustellen, dass die Mitarbeiter*innen sich im Home Office nicht zu sehr, nun ja, zu Hause fühlen. Covid-19 ist kein Grund, nicht stets geschminkt zu sein und innerhalb kürzester Zeit auf E-Mails zu reagieren. Business as usual eben.
Irgendwie klarkommen
Was aber ist mit den Menschen, die zu Hause Kinder und – alte, kranke – Angehörige versorgen müssen? Im Zweifelsfall „neben“ ihrer Arbeit? Mit den Menschen, die existentielle Ängste haben und nicht wissen, wie sie ihre Lebenskosten decken sollen?
Die nicht wissen, wie es mit ihrem Unternehmen, ihren Mitarbeiter*innen weitergeht? Die sich schlicht nicht in der Lage fühlen, in irgendeiner Art und Weise produktiv zu sein, weil schon das morgendliche Aufstehen momentan Herausforderung genug ist? Sind diese Menschen weniger wert? Weil sie in dieser Krise nicht einfach weiter funktionieren wie sonst auch? Und was ist mit den Menschen, die an Supermarktkassen sitzen, in Krankenhäusern arbeiten, die Post zustellen und ganz generell dieses Land vor dem Zusammenbruch bewahren? Die tun schlicht, was getan werden muss. Sie sind diejenigen, die tatsächlich das Beste aus dieser Situation machen müssen – und zwar für uns alle.
„Ich bin so richtig müde“, schreibt Fabienne. Und das ist ihr gutes Recht. Es ist unser aller Recht. Wir müssen nicht Shakespeare sein, oder Issac Newton. Wir müssen die Coronakrise nicht nutzen, um noch mehr zu arbeiten, uns selbst zu optimieren oder den neuen Jahrhundertroman zu schreiben. Wir müssen vor allem gesund bleiben oder es werden. Klarkommen. Uns um uns selbst und unsere Familien und Freund*innen kümmern. Auf unsere Mitmenschen achtgeben. Diese Krise irgendwie überstehen. Und das ist schon eine ganze Menge.