Es war irgendwann im November: Wir hatten Besuch und saßen allesamt gemeinsam auf unserem dunkelgrauen Sofa, das ich früher einmal für unsere erste Wohnung gekauft hatte, als, ganz nebenbei, das Wort „Bulimie-Lernen“ fiel. Bloß wenige Sekunden später hatte sich dieses Wort im gesamten Raum ausgebreitet und auf so ziemlich jede Oberfläche, die es finden konnte, gelegt. Es starrte mich vom Fensterbrett, von den Boxen und von der Sofakante an und schien seine Blicke in mich hineinbohren zu wollen, wohlwissend, was es da gerade in mir anrichtete. Den restlichen Abend lang klingelte jener Begriff wie eine schrille Glocke in meinen Ohren und übertönte alle Worte, bis jegliche Gespräche an mir vorbeizogen und ich apathisch in die Leere starrte. In meinem Inneren stolperten sämtliche Emotionen chaotisch übereinander, fast so, als wüssten sie selbst nicht, wohin mit sich. Ich war verletzt, wütend und traurig zugleich, hielt aber dennoch meinen Mund und lächelte weiter starr in die Luft, bloß um mit meinen eigenen Befindlichkeiten niemand anderen vor den Kopf zu stoßen.
Als ich endlich im Bett lag, wunderte ich mich selbst darüber, mit welcher Macht ein solch dämliches Wort wie „Bulimie-Lernen“ über meine Gefühlswelten herrschen konnte, obwohl ich doch wusste, dass Begrifflichkeiten wie diese oftmals bloß so daher gesagt werden, weil wir sie uns von der Gesellschaft, den Medien und anderen Personen abgeschaut und letztlich antrainiert haben. In den meisten Fällen denken wir also nicht einmal über die eigentliche Herkunft, Bedeutung oder Auswirkung nach, bevor wir sie in unsere Umgebung schießen. Da gibt es Ausdrücke und Aussagen wie „Autistic Disco“, „Da wird man ja depressiv“, „Das ist doch behindert“, „Ich glaube, ich muss bald in die Klapse“ oder „Wenn das so weitergeht, nehme ich mir einen Strick“, die nicht nur Erkrankungen, sondern auch Suizidgedanken verharmlosen. Auch ich habe früher mit unüberlegten Begriffen jongliert — bis ich irgendwann eben selbst zur Betroffenen wurde und begriff, dass man keineswegs „depressiv wird“, weil die Lieblingsserie nach drei Staffeln tatsächlich vorbei ist und „Bulimie-Lernen“ den Witz verliert, sobald man Erfahrungen mit einer Essstörung gemacht hat und in eine elendige Spirale taumelt.
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Dieser unachtsame Umgang mit Sprache zieht sich seit jeher durch unsere Gesellschaft und wurde im internationalen Raum bereits von diversen Autor*innen kritisiert. Im Jahr 2017 schrieb etwa die Redakteurin Pauline Campos über den problematischen Trend, die Zwangsstörung OCD, (obsessive-compulsive Disorder) als Synonym für die Vorliebe von Ordnung zu verwenden und verwies dabei auf den Hashtag #soOCD, der oftmals von Frühjahrsputz und farblich passenden Socken, nicht aber von der eigentlichen Krankheit handele. Auch Shelly Saksena, Autorin der Webseite Feminism in India, machte im selben Jahr auf den unüberlegten Gebrauch von Begrifflichkeiten wie etwa „bipolar“ und „schizophren“ aufmerksam, wies im selben Zuge jedoch auch auf die Unwissenheit vieler Personen hin:
„That said, we end up using psychological terms whose meanings we don’t fully understand and cause a lot more harm than we realize. [… ] We use words like depression, OCD, bipolar, panic attack, addiction, triggered and psychopath incorrectly because most of us feel that these words are exaggerated versions of regular words and we fail to see them as actual illnesses, usually because these illnesses are invisible to most.“
Gehen wir also, wie Saksena, davon aus, dass das Grundproblem in der Ahnungslosigkeit liegt, ließe es sich doch eigentlich reichlich schnell lösen, indem wir uns alle mit der Bedeutung von Wörtern und somit, zwangsläufig, auch mit ihren möglichen Auswirkungen auseinandersetzen — und zwar, bevor wir sie aussprechen, schreiben oder gar denken, denn: Psychische Krankheiten sind in den wenigsten Fällen sichtbar und oftmals bemerken wir den angerichteten Schaden durch die noch immer stark verbreitete Tabuisierung jener Erkrankungen nicht einmal. Es gilt also, all jene, die unter psychischen, aber auch geistigen und körperlichen Krankheiten leiden, zu schützen — durch gewaltfreie Kommunikation und Achtsamkeit von uns allen. Das Schöne an unserer Sprache ist doch, dass sie so randvoll mit Wörtern gefüllt ist, dass sich für jedes noch so blöde Gefühl ein passender Begriff finden lässt und zwar ganz ohne sich dabei an Worten bedienen zu müssen, die ernsthafte Erkrankungen beschreiben. Sagen wir beim nächsten Mal also doch einfach so etwas wie: „Das graue Wetter verdirbt mir die gute Laune“, „Die Situation ist gerade wirklich richtig scheiße“, „Ich glaub‘, mein Schwein pfeift“, “ oder „Wenn das so weitergeht, muss ich wohl mal wieder in mein Kopfkissen brüllen“. Im Besten Fall schützen wir mit durchdachten Aussagen nämlich nicht nur andere Personen vor negativen Emotionen, sondern lernen auch, unsere eigenen Gefühle besser einzuschätzen und zu beschreiben − und das ist gar nicht so schwer, wie es vielleicht klingen mag, versprochen.