Die in Berlin und Tel Aviv lebende Journalistin und Schriftstellerin Mirna Funk beschäftigt sich mit der Präsenz jüdischer Kultur in Deutschland. Für VOGUE erzählt sie in ihrer Kolumne „Jüdisch heute“ von ihrem Alltag als deutsche Jüdin – und nimmt uns damit mit auf eine Reise in eine Welt, über die wir eigentlich kaum etwas wissen. In diesem Text schreibt Mirna Funk darüber, dass Frauen im Judentum ein Recht auf Sex haben und warum dieses Machtgefälle zwischen Mann und Frau extrem relevant für das innerjüdische Verhältnis ist.
Mirna Funk: „Jüdisch heute“
Robert trank vom guten Riesling, den ich gekauft hatte. Er selbst hatte einen schlechten Sancerre mitgebracht. Seine Hand lag auf meinem Knie. Dort hatte sie schon etliche Male gelegen. Und ich fragte mich, ob er es diesmal hinbekommen würde, sie nicht wieder wegzuziehen. Zwei Wochen zuvor war er aus China geflüchtet, nachdem er dort im Lockdown festgehangen hatte, in der Hoffnung, in Berlin Social Life genießen zu können, was sich als offensichtlicher Denkfehler herausstellte.
Monatelang hatte ich nichts von ihm gehört, aber plötzlich eine Instagram-Nachricht bekommen und ihm daraufhin ein Abendessen angeboten. Er bedankte sich dafür, als Goi, also Nicht-Jude, von mir zum Schabbat eingeladen worden zu sein. Und anstatt ihn für diesen Satz wieder auszuladen, machte ich einfach die App zu. Robert hatte ein Jahr lang in einem Kibbuz in Israel gelebt, um sich dort seiner Vergangenheit als nicht jüdischer Deutscher zu stellen, wie er ständig ungefragt erklärte.
Während also seine dicke deutsche Hand auf meinem Bein lag, sinnierte er darüber, wie gern er mit mir schon seit Jahren physisch alles Mögliche anstellen wolle, aber meine emotionale Unnahbarkeit dafür sorgte, nicht weiter gehen zu können. Er nannte mich sogar einen weiblichen Chauvinisten, vorrangig, weil ich kurz zuvor einen Text publiziert hatte, indem es um meine Lustbefriedigung durch Toyboys ging. Er beschrieb mich als eine Frau mit einem Penis: irgendwie extrem verführend, aber gleichzeitig total unweiblich.
Jüdische Hure, blabla
Da war es also: Das uralte antisemitische Klischee der verführenden, aber unweiblichen Jüdin. Nicht, dass Robert der Erste in meinem Leben gewesen wäre, der mir diese Eigenschaften unterstellte, aber seine angeblich in Israel angeeignete Reflexion und sein offensichtlich unreflektierter Antisemitismus waren sogar für jemanden wie mich ein bisschen neu. Als sei Robert ein schwerer Autounfall auf einer Landstraße, saß ich mit geöffnetem Mund vor ihm und hörte gebannt seinen kruden Ausführungen zu.
Schon als mein Roman Winternähe rauskam, wollte jeder nicht jüdische Leser mit mir über die Sexszenen sprechen. Da seien so dermaßen viele von im Buch und extrem explizit beschrieben. Wieso ich das gemacht hätte, fragten alle, und ich antwortete: „Weil Sex zum Leben gehört.“
Das Zauberwort Yada
Und genau so ist es auch im Judentum. Sexualität ist keine Sünde. Sie ist nicht schmutzig, nicht böse, nicht verwerflich. Sie ist wie Hunger oder Durst. Ein normales Bedürfnis, das sich bei gesunden Menschen zeigt. Aber Sexualität ist noch mehr: Sie ist spirituell. Das hebräische Wort „Yada“, das für „jemanden kennen“ steht, wird auch benutzt, wenn man ausdrücken möchte, dass man mit jemandem Sex hat. Yada bedeutet: jemanden wirklich und auf eine intime Weise kennenzulernen. Und wie ginge das besser als beim Sex, wenn zwei nackte Körper aufeinandertreffen?
Aber der Begriff wird nicht nur für das Beschreiben der Beziehung zwischen Menschen verwendet, sondern auch für die Beziehung zu Gott und erhält damit eine transzendente Bedeutung. Dass es bei der Sexualität im Judentum um mehr als Fortpflanzung geht, bestätigen viele unterschiedliche Schriften. Sei es bei Rambam, der im Brief „Igereth Hakodesh“ sagt, ein Ehemann könne mit seiner Frau in jeder beliebigen Weise verfahren und jedes Organ ihres Körpers nach Wunsch küssen und Geschlechtsverkehr auf natürliche und unnatürliche Art haben. Wobei mit natürlich die Fortpflanzung gemeint ist und mit unnatürlich Sex zur reinen Lustbefriedigung.
Oder die bekannte Quelle in der Thora, in der ausdrücklich steht, dass es eine mitzvah, also ein Gebot, ist, die Frau zu befriedigen. Denn im Judentum ist Sex zu haben ein Recht der Frau, nicht des Mannes. Dieses Machtgefälle zwischen Mann und Frau, bei dem sich die Frau in der überlegeneren Position befindet, ist extrem relevant für das innerjüdische Verhältnis zwischen Männern und Frauen, aber auch für die antisemitischen Topoi, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind. Zum einen seien jüdische Frauen verführend und gleichzeitig unweiblich, und zum anderen seien jüdische Männer lüstern, aber unmännlich.
Die eindeutigen Geschlechtsidentitäten werden Juden offensichtlich abgesprochen, weil die Maßstäbe innerhalb der Sexualität nicht den christlich-normativen entsprechen. Denn im christlichen Mainstream der westlichen Welt wird die Frau für ihre Bedürfnisse bestraft und muss aus Angst vor Vergeltung mit diesen zurückhalten. Im Judentum allerdings ist das Gegenteil der Fall: Als Frau ist es mein Recht, Sex haben zu wollen und gleichzeitig vom Mann befriedigt zu werden. Diese weitreichenden Rechte der Frau sind in der Mishnah festgeschrieben. Erfüllt der Ehemann sie nicht, kann die Frau die Scheidung einreichen.
Genau mit diesem Selbstverständnis habe ich immer gelebt. So bin ich meiner Sexualität nachgegangen. Von den allermeisten nicht jüdischen Partnern, die ich hatte, wurde ich für meinen selbstbestimmten Umgang harsch kritisiert und oftmals angegriffen. Dieser Blick auf das Judentum mag für viele neu sein.
Das liegt unter anderem daran, dass die meisten, wenn sie an Juden denken, sofort orthodoxe Gruppierungen im Kopf haben, wie die Satmar-Sekte, die in der aktuellen Netflix-Serie „Unorthodox“ eine Rolle spielt. Aber von allen lebenden Juden in der Welt sind gerade mal zehn Prozent orthodox. Ihre individuelle Auslegung der jüdischen Schriften ist speziell und repräsentiert nicht das Judentum als solches. Leider bekommen sie viel Aufmerksamkeit. Auch weil sie so schön anders aussehen, so wie man sich Juden eben immer vorgestellt hat. Ihr realer Einfluss innerhalb der jüdischen Welt ist allerdings verschwindend gering. Und das sollte man nie vergessen.
Nachdem Robert mir dann noch erklärte, ich solle Empathie für seinen Nazi-Opa aufbringen, der habe sehr nach dem Krieg gelitten, sagte ich drei bis vier unmissverständliche Sätze, die Robert dazu veranlassten dramatisch und mit wehendem Haupthaar aus meiner Wohnung zu stürmen.
Meinen mir selbst schon vor acht Jahren auferlegten Kodex, nur noch mit jüdischen Männern Sex zu haben, weil sie mich erstens befriedigen müssen und zweitens nicht dafür verurteilen dürfen, verlängerte ich nach Roberts Abgang um weitere 80 Jahre.