Ich will jetzt seit etwa einer Stunde mit dieser Kolumne beginnen, euch irgendetwas Wichtiges mit auf den Weg geben; der bedeutungsschwangere Inhalt erstreckte sich kurz zuvor noch klar wie ein Glas Vodka vor meinem inneren Auge, aber dann kam da nur gequirlte Scheiße raus.
Also schaute ich rechts rüber, durch das kleine Fenster neben meinem Schreibtisch, das die Sicht zum Balkon freigibt. Ein fetter Rabe landete gerade ganz selbstgefällig auf dem frisch gepflanzten Vergissmeinnicht und starrte mich an, als hätte er noch nie im Leben einen Menschen gesehen. Opa?, dachte ich und ob das wohl als mahnender Arschritt von oben gemeint sei. War es nicht. Der Rabe war bloß dabei, eine saftige, goldgelbe Pommes in meinen Blumen zu verstecken. Sogar ein Häufchen Erde schaufelte er mit seinen Krallen darüber, bevor er mir noch einen letzten Pablo-Escobar-strengen Blick zuwarf. Als ob ich wirklich scharf auf diese einsame Pommes und mutig genug wäre, es mit ihm aufzunehmen.
In Wahrheit bin ich gerade auf gar nichts scharf, außer auf Schlafen. Ich habe nämlich einen Corona-Kater, das habe ich bei Ohhhmhhh gelernt. Fühle mich wie besoffen, nur ohne lustigen Beigeschmack. Vermutlich dachte ich deshalb für einen kurzen Augenblick, jetzt hätte der blitzgescheite Vogel mich tatsächlich durchschaut. Gemerkt, dass ich gerade echt wenig in der Birne habe. Für feministische Debatten etwa fehlt mir momentan nicht nur die Zeit, sondern auch der Schneid. Stattdessen mache ich es mir auf meinem Instagram-Kanal mit Popocorn-Spiegeln und Mushroom-Lampen bequem.
Das Gefühl, das damit einher geht, diese spürbare Unzulänglichkeit, ist übrigens auch als Impostor-Syndrom bekannt. Das kennen eigentlich alle, die irgendeinen Job machen. Ist bis zu einem gewissen Grad auch ganz normal. Man fragt sich dann: Was mache ich hier eigentlich und mit welcher Berechtigung? Wann fliege ich auf? Wann merken die, dass ich nur halb so gut bin wie mein Ruf?
Die britische Journalistin Yomi Adegoke kommentierte die systemischen Ursachen des sogenannten „Hochstapler“-Syndroms bezogen auf die weibliche Psyche sogar einst wie folgt: „Es wird Zeit, dass wir das Problem nicht darin sehen, dass Frauen nicht an sich selbst glauben, sondern darin, dass wir in einer Welt leben, die sich weigert, an Frauen zu glauben.“
Gleichzeitig verlangt die Welt auch ganz schön viel von uns. Immer, aber auch jetzt in der Krise. Engagiert euch, seht hin, bleibt solidarisch, kümmert euch um die Kinder, beschwert euch nicht. Stattdessen: Macht das Beste draus. Aha, ja klar. Nur wie?
Nachdem ich vor einigen Tagen Julias Artikel über typografisch brilliant in Szene gesetzte Zitate, die unser Leben angenehmer machen sollen, verschlungen hatte, stolperte ich alsbald über genau einen solchen Instagram-Beitrag aus dem Schlund der digitalen Motivations-Reden, auf den ich mich schließlich voll und ganz einlassen konnte:
She believed she could, but she needed
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Ich fühlte mich ertappt, aber auch bestärkt. Klar kann ich, wenn ich dringend muss. Aber muss ich überhaupt? Das ist es doch, was derzeit so munter gepredigt wird: Locker bleiben, dem Selbstoptimierungswahn den Stinkefinger zeigen, einfach mal aufgeben, obgleich das ein oder andere körpereigene Notstromaggregat sicher noch anzuzapfen wäre, die Eier baumeln lassen. Besser mal gar nichts machen als am laufenden Band nur Halbgares nach draußen zu posaunen. Klingt doch umsetzbar. Und gesund, fast schon heilsam.
Was aber, wenn es für Menschen wie mich in Wahrheit nichts kräftezehrenderes gibt, als ebendiese Kunst des Liegenlernens inmitten einer globalen Krise, die längst zu einer persönlichen Sinnfrage gewachsen ist? Ich meine ja nur. Denn selbst wenn gar nichts mehr geht und mein Hirn sich aufgrund des alltäglichen völlig monotonen Entenmarschs bereits ausgeklinkt hat, geht das Gedankenkarussell sogar noch einen Schritt weiter und dreht sich, bis mir schwindelig wird:
Eine Mutter schickte mir heute Morgen etwa eine Anekdote aus ihrer Homeschooling-Hölle zum Thema Redebegleitsätze: „Warum machst du so ein nachdenkliches Gesicht?“, fragte der Mann. „Mir gefällt es besser, wenn du lächelst.“ Kann das 2020 denn noch wahr sein? Was, wenn mein Sohn im Sommer in die Schule kommt? Drehe ich dann am Rad? Fange ich Streit an? Und will ich eigentlich ein zweites Kind? Und wie schräg ist es, dass ich ständig Ausmalbilder von Teilchenbeschleunigern im Internet suchen muss? Ich hatte noch nichts davon zu Ende gedacht, da machte die Amadeu Antonio Stiftung mich auf den Anstieg stark antisemitischer Verschwörungsmythen im Kontext des Corona-Virus aufmerksam – ihr wisst schon, all die reptiloiden Wesen, die nach der Weltherrschaft streben. Hashtag glaubnichtalles. Wie aber können wir vorgehen gegen solche saudummen Leute? Wie bietet man Stimmen die Stirn, die Covid-19 noch immer für eine „harmlose Grippe“ halten, denen es egal ist, wenn „ältere Menschen dann eben etwas früher sterben“? Und haben die Leute durch die Lockerungen den Verstand verloren? Wie werden wir ab kommender Woche eigentlich mit den vier Kita-Stunden am Tag zurechtkommen? Muss ich den Wecker stellen? Am 14. geht es los. Aber Moment, am 17. Mai steht außerdem der Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie im Kalender. Ist eine neue Anleitung zum Alleyship vonnöten? Wie können wir als Medium diverser und intersektionaler werden? Und wie bringe ich meinem Sohn bei, dass die Menstruationstasse kein Raumschiff für Lego-Figuren ist? Während ich mich eigentlich noch mit Fragen wie diesen zu beschäftigen versuchte, hatte Pro Sieben allerdings wieder einmal seine Hausaufgaben nicht gründlich genug gemacht und in einem gut gemeinten 15-Minuten-Beitrag gemeinsam mit Joko und Klaas auf sexualisierte Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht, dabei aber einen zu 99% weißen Cast zu Wort kommen lassen und noch dazu gemeinsame Sache mit Terre des Femmes gemacht, einer überaus streitbaren Organisation, die in Deutschland durch Islamophobie glänzt. Habe ich den Typen, der mich vor Jahren im Schlaf gefingert hat, eigentlich angezeigt? Und wieso wird besoffenes Pöbeln im Freundeskreis eigentlich noch immer so gern verniedlicht? Habe ich noch Alkohol im Haus? Soll ich endlich LSD ausprobieren? Und warum schaut man auf Acid besser nicht in den Spiegel? Fast hätte ich den Gedanken zu Ende denken können, aber dann grätschte mir schließlich auch noch der Kulturwissenschaftler und Autor des Buches „Vertrauter Fremder“ Stuart Hall dazwischen, in dem er mich mit seinem Zitat „Identität, im Singular, wird niemals abschließend erlangt. Identitäten, im Plural, sind die Mittel des Werdens.“ geistig auf Trab hielt. Wer bin ich? Und was? Jüdin, Katholikin oder nichts, weil ich vor allem Atheistin bin? Wo ist die Pommes? Und was, wenn er davon auf die Blumen bricht?
Da war er also wieder, der Kater, der vom Raben in den Schwanz gebissen wurde. Und die Einsicht, dass sich nicht nur die Welt weiter dreht, ganz gleich, wie matsche du bist, sondern dass eben auch der Kopf weiter rattert, egal wie platt du auf dem Boden liegst.
Es wundert es mich also nicht im Geringsten, dass so viele von uns gerade anfangen, komische Dinge zu tun. Um sich abzulenken. Um etwas Schönes zu machen. Etwas, das greifbar und spürbar und wahrhaftig ist. Dass plötzlich Brote gebacken werden, die neununddreißig Mal gewendet werden müssen, dass Fimo Knete in jedem zweiten Haushalt zum abstrakt geschwungenen Kerzenständer mutiert, dass die Leute schon wieder massenhaft in Marie Kondo-Manier ihre Schränke beackern oder tatsächlich lernen, zu coden. Macht doch. Macht das alles. Alles, was gut tut. Denn mit der aktuell so viel besprochenen toxischen Selbstoptimierung hat diese Art von Rastlosigkeit nun wirklich ungefähr rein gar nichts am Hut.
Ich zum Beispiel, ich kann jetzt Tarot-Karten legen. Weil mein Gehirn kleine Pausen braucht, aber bitte keine Ruhe – sonst kriegt es nämlich schon wieder die Krise in der Krise.