In Krisenzeiten suchen wir nach Orientierung, nach Halt, nach Erklärungen für das, was da gerade passiert. Bücher können uns dabei helfen: Nach den Pariser Terroranschlägen 2015 griffen viele zu Ernest Hemingways Paris. Ein Fest fürs Leben – ein Ausdruck des Wunsches, sich die Freude an dieser Stadt nicht nehmen zu lassen, dem Terrorismus Optimismus entgegenzusetzen. Nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd stehen in Deutschland Bücher, die schon vor einiger Zeit erschienen sind, plötzlich wieder auf den Bestsellerlisten: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten von Alice Hasters zum Beispiel, oder Exit Racism von Tupoka Ogette. Man will sich informieren, dazulernen, verstehen. Und in der Coronakrise erlebt Albert Camus‘ Die Pest ein Comeback.
Ich habe nach den Anschlägen in Paris ebenfalls meine alte Ausgabe von Ein Fest fürs Leben herausgekramt, in den letzten Wochen Alice Hasters Buch noch einmal sowie das von Tupoka Ogette zum ersten Mal gelesen. Aber Die Pest steht weiterhin in meinem Regal – ich habe überhaupt kein Bedürfnis, es zur Hand zu nehmen. Warum? Ich scheine mich doch sonst offenbar gerne mitreißen zu lassen, wenn es darum geht, in schweren Zeiten alte und neue Klassiker zu lesen, mich von ihnen inspirieren, informieren, aufklären und trösten zu lassen.
Abenteuer im Fantasy-Reich
Aber bei Corona ist das anders. So käme ich nicht auf die Idee, das momentan sehr beliebte Station Eleven von Emily St. John Mandel zu lesen (in dem Roman geht es um einen tödlichen Virus). Stattdessen sehne ich mich ganz weit weg, in eine Welt, in der kein Virus wütet, in der ich in der Öffentlichkeit keinen Mundschutz tragen oder mir ständig die Hände waschen muss. Ich will Ablenkung von diesem sehr realen Virus, der unser Leben seit Monaten prägt und der so viele Menschen das Leben kostet. Und so wende ich mich Büchern zu, mit denen ich fliehen kann.
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Seit meiner Kindheit sind das vor allem Fantasy-Bücher. Zusammen mit Lyra Belacqua und ihrem Dæmon Pantalaimon machte ich mich in Philip Pullmans Der Goldene Kompass auf in die eisige Polarwelt, auf der der Suche nach Lyras bestem Freund Roger, flog mit den Hexen und ritt auf dem Rücken eines Panzerbären. Durch J.R.R. Tolkiens Herr der Ringe wurde ich zu einer Gefährtin von Frodo, Gandalf, Aragorn, Legolas und den anderen, die unterwegs nach Mordor waren, um den einen Ring zu vernichten. Zusammen mit Harry Potter besuchte ich in J.K. Rowlings gleichnamiger Buchreihe das Zauberinternat Hogwarts, wo ich das Trimagische Turnier erlebte, Quidditch spielte und gegen den dunklen Magier Voldemort kämpfte.
Heute mag ich Fantasy-Romane immer noch, zum Beispiel die von Tomi Adeyemi oder Roshani Chokshi. Und ich mag Fantasy-Serien: Die coronabedingte Selbstisolation wurde mir durch die Verfilmung von Andrzej Sapkowskis The Witcher (auf Netflix) versüßt – ein paar Stunden lang konnte ich mich der Illusion hingeben, dass Geralt von Rivas mächtige Muskelberge am Ende sogar über den Coronavirus siegen könnten. Oder eher, dass die mächtige Hexe Yennefer von Vengerberg schon den passenden Zauber parat hätte, um all meine Corona-Sorgen verschwinden zu lassen.
Flucht in fremde Welten
In den letzten Wochen habe ich den Radius meiner „Eskapismus“-Lektüre erweitert, auf Bücher, die in unserer Welt spielen, aber mich trotzdem aus meinem wenig spektakulären Alltag reißen. Zum Beispiel die Killing Eve-Reihe von Luke Jennings, dank der ich mich, wie Titelheldin Eve, in eine psychopathische, aber sexy Auftragskillerin verliebte. Oder The Royal We von Heather Cocks und Jessica Morgan (Gründerinnen des Fashion-Blogs Go Fug Yourself), das die Geschichte einer amerikanischen Studentin erzählt, die sich in den britischen Thronfolger verliebt – meine Begeisterung für dieses flott geschriebene und lustige Buch beweist wieder einmal, dass ich mich entgegen meiner Behauptung, kein besonderes Interesse am britischen Königshaus zu haben, dem Charme der Royals nicht entziehen kann. Auch hervorragend für kleine Fluchten geeignet: Familiendramen wie Little Fires Everywhere von Celeste Ng, Crazy Rich Asians von Kevin Kwan oder Brother of the More Famous Jack von Barbara Trapido.
Vielleicht habe ja ich in ein paar Jahren Lust, Bücher über die Coronakrise zu lesen, Bücher, die mir rückblickend etwas geben. Vielleicht. Aber momentan bin ich anderweitig beschäftigt. Ab und zu in fremde (oder gar nicht mal so fremde) Welten zu fliehen, erlaubt mir, Abenteuer zu erleben und Herausforderungen zu meistern, die mal nichts damit zu tun haben, wie ich im Supermarkt meine Maske so arrangiere, dass meine Brille nicht beschlägt. Es erlaubt mir, durchzuatmen und mich mit den fiktiven Problemen fiktiver Menschen zu beschäftigen – und meine eigenen, oft lächerlich trivialen Sorgen, zumindest für kurze Zeit zu vergessen.