“Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot”, “Der Mann schläft”, “Vielen Dank für das Leben”, “GRM Brainfuck”: Die Romane von Sibylle Berg treffen, wie einen das Leben eben so treffen kann: mitten ins Gesicht, voll in den Bauch und mit dem Herzen, da war doch auch irgendwas? Berg benennt die Dinge wie sie sind, dekoriert Sentimentalitäten ab und Dystopien sind ihr Hobby. Sie wurde schon als „Piranha im Goldfischteich der deutschen Literatur“ bezeichnet, immer wieder wird ihr Pessimismus unterstellt und auch vorgeworfen, sie schreibe nicht weiblich genug. Aber Zuschreibungen interessieren sie nicht, sie hält sich lieber an die Dinge, die relevant sind für die Zeit, in der wir leben. Die Seilschaften von Männerbünden des Patriarchats. Der Aufbruch der Unterdrückten. Die Aufweichung von Geschlechterrollen. Populismus. Neoliberalismus. Die Digitalisierung. Dabei ist nichts nur gut oder nur böse, nur richtig oder nur falsch, nur schön oder nur hässlich, schwarz oder weiß.
Sibylle Berg widmet sich den optimistischen Grauzonen unserer Welt, denn Grau ist ein Übergang, Transitzustand und die Hoffnung, dass es dann doch gut wird. Aus ihren Geschichten sind bisher 27 Theaterstücke und 15 Romane entstanden, die in 34 Sprachen übersetzt wurden und sie ist eine der meistgelesenen Kolumnistinnen im deutschsprachigen Raum. Für ihren letzten Roman, „GRM – Brainfuck“, wurde Berg unter anderem mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie für ihr Werk den Grand Prix Literatur, die höchste Auszeichnung, die die Schweiz für literarisches Schaffen vergibt. Sibylle Berg lebt in Zürich und Tel Aviv. Für dieses Interview habe ich Frau Berg jedoch im Internet getroffen. Hier findet man sie eigentlich immer auf Twitter, aber niemals auf Google.
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Fabian Hart (FH): Als ich Sie gefragt habe, ob Sie mit mir über Männlichkeiten sprechen möchten, haben Sie gesagt, dass Sie früher dachten, Sie müssten eigentlich männlich sein – wieso?
Sibylle Berg (SB): Es gab da einfach sehr viele Irritationen. Als Jugendliche war ich überzeugt davon, männlich zu sein, brachte das aber mit den vorhandenen Genitalien nicht in Einklang. Das hatte eine Reihe von komischen Folgen. Zum einen fing ich mich sehr früh an zu schminken, zum anderen fühlte ich mich aber immer wie ein geschminkter Mann. Das hätte okay sein können, wenn ich nicht in einer Kleinstadt gelebt hätte…
FH: Was an Ihnen war, beziehungsweise ist männlich, was nicht weiblich ist?
SB: Ich fand komisch, dass ich nicht so eine “tolle Frau” bin, also Zuschreibungen wie “warm”, “weich”, “fürsorglich” nicht erfüllen wollte und konnte. All die Dinge, die Frauen eben so zugeschrieben werden, um sie ruhig zu halten…
FH: …und auch kleiner. Würden Sie sich heute eher als nichtbinär bezeichnen?
SB: Ja, aber ich habe heute im Erwachsenenalter keine Probleme mit meiner Identität, es ist mir egal wie man mich einordnet, ich ordne mich nicht ein. Es ist wunderbar und hilfreich, wenn Heranwachsende heute wissen, dass sie nicht alleine sind mit der Unsicherheit nicht “normal” zu sein. Ich weiß heute, dass niemand normal ist, dass es nur eine gesellschaftliche Norm gibt, die für mich gültig ist und die heißt: Alle sollen tun und leben wie sie möchten, solange man andere nicht beeinträchtigt.
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FH: Traditionelle Männlichkeit funktioniert über Ausgrenzung und ist eigentlich die stete Ablehnung von allem, was als weiblich gilt, also die Zuschreibungen “warmherzig”, “weich”, “fürsorglich”, “geduldsam”, die Sie eben auch schon genannt haben. Wenn man die Anforderungen erfüllen möchte “ein richtiger Mann” zu sein, dann muss man ständig seine Männlichkeit beweisen …
SB: Das ist sicherlich auch sehr unbefriedigend für viele Männer, die wahnsinnige Verformungen machen, um diese Fraternisierung hinzubekommen. Um Anerkennung von Männergruppen zu erhalten. Man muss da mitspielen, denn Männer haben vor Männern Angst. Nicht vor Frauen. Das zwingt viele Männer in furchtbare Situationen. Alleine dieser ganze Karriere-Stress!
FH: …und wenn du dich nicht an diesen Anforderungskatalog Männlichkeit hältst, dann bist du als Mann einfach eine Lachnummer. Denn “Mann sein“ und ”Männlichkeit“ sind ja nicht dasselbe. Das eine beschreibt das Geschlecht, dem du dich zugehörig fühlst. Männlichkeit aber ist ein Sammelbegriff für Eigenschaften, die wir von Männern in unserer Gesellschaft erwarten. Wie so eine Art Knigge für Männer. Alles und alle im Griff haben, auch sich selbst. Der Begriff “toxische Männlichkeit” wird deshalb auch immer wieder falsch verstanden im Sinne von“alle Männer sind giftig“. Nicht Männer per se sind giftig – das Ungesunde liegt in der traditionellen Männlichkeit: Keine Gefühle zulassen, Wut als stärkste Emotion zu kultivieren, aber sonst keine anderen zeigen dürfen, weil sie als Schwäche gelten, selbst wenn es gute sind. Gewalt anzuwenden. An anderen und an sich selbst.
SB: Ich möchte jetzt nicht in diese Schiene verfallen “die armen Männer, die haben es auch nicht leicht”. Natürlich haben sie es nicht leicht. Wir haben es alle nicht leicht. Wir alle sind Menschen und wir sind sterblich und das Leben dazwischen ist eigentlich eine Aneinanderreihung von Demütigungen. Wir werden krank, wir werden alt, wir sterben, wir verlieren unsere Jobs und Leute, die wir lieben. Es ist für alle irgendwie der gleiche Start ins Leben und für alle ist es irgendwie anstrengend. Nur ist es dann für diejenigen noch ein bisschen anstrengender, die aus dieser Männergesellschaft fliegen. Weil sie queer sind, weil sie Frauen sind, weil sie Schwarz sind…
FH: Meine Homosexualität hat mir tatsächlich dabei geholfen, dieses Männlichkeits-Ding zu überwinden, zumindest die meiste Zeit. Ich kann nach traditioneller Vorstellung dieses Ideal von Männlichkeit gar nicht erreichen. Alleine dadurch, dass ich schwul bin, “zerstöre” ich Männlichkeit.
SB: Sie haben die vernichtet, das ist so. Sie sind Schuld! (lacht)
FH: Sie haben, so sagt man, in ganz vielen Ländern gelebt, unter anderem auch in Rumänien und Israel. Sie sind in der ehemaligen DDR geboren, dann nach Hamburg gezogen. Wo sind Ihnen bisher die schlimmsten Machos begegnet und wo die besten Menschen?
SB: Die unangenehmsten Begegnungen mit Männern gab es in Indien und Bangladesch. In Bangladesch war es fast unmöglich, sich auf der Straße zu bewegen, ohne angefasst und umringt zu werden. In Indien war das ähnlich, obgleich ich mit einer der ersten indischen Fotografinnen, Dianita Singh, unterwegs war, die sich verbal akkurat wehren konnte. Die besten Menschen aber habe ich in Island getroffen. Also wenn in Island Palmen stünden und es dort schönes Wetter gäbe, dann wäre das mein Land. Dort hatte ich das Gefühl – und wir wissen Gefühle sind Bullshit – von einer sehr freien und gleichberechtigten Gesellschaft.
FH: Bitte erzählen Sie unseren LeserInnen doch nicht, Gefühle seien Bullshit. Im ersten Schritt müssen vor allem Männer erstmal verstehen, dass es die überhaupt gibt, um sie dann auch zu zeigen. Introspektion, fühlen lernen und so…
SB: Gefühle, Alter! Ich bin darin nicht so gut. Das Einzige, woran ich mich immer orientiere, ist Handeln nach Lage. Sie merken, irgendwie habe ich “nichtbinäre Statusse”. Ich würde nie typische Gefühlsgespräche führen im Sinne von „Du hast mich jetzt verletzt“. Ich sage dann eher “Der tut mir nicht gut, ich weiß nicht, ob er mich verletzt hat. Ich fühle mich einfach unwohl.” Ich glaube, das wäre für Männer und für Frauen gar nicht so doof, wenn man gar nicht erst versucht, das alles zu erlernen und zu ergründen, sondern wenn man einfach überlegt: Wie ist es mir wohl? Es klingt jetzt sehr naiv, aber man merkt das ziemlich gut.
FH: Ich mache jetzt in meinen Dreißigern zum ersten Mal in meinem Leben eine Therapie. Da lerne ich, warum ich in gewissen Momenten abhaue, aus Angst oder weil es wehtut.
SB: Aber was spricht denn gegen Weglaufen? Das ist doch ein cooler Move!
FH: Weil man dann vielleicht Menschen verliert, die man liebt.
SB: Aha!
FH: Wenn du immer wegläufst, dann bleibst du ja nie.
SB: Aber wenn du die richtig liebst, dann bleibst du doch? Wir drehen uns im Kreis!
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FH: Sie haben in Ihren Romanen und Kolumnen immer wieder auch Geschlechterrollen thematisiert. Etwa in „Vielen Dank für das Leben“, die Hauptfigur „Toto“ ist trans. Obwohl in Deutschland mittlerweile das dritte Geschlecht gesetzlich anerkannt ist und intergeschlechtliche Personen die Kategorie “divers“ für sich in Anspruch nehmen können, finden trans- und intersexuelle Personen in der Gegenwartsliteratur kaum statt. Wie haben Sie sich der Figur Totos angenähert?
SB: Was Toto betrifft, war es sicherlich viel eigenes Erleben, das Gefühl, ein Freak zu sein. Zum anderen aber auch Lebensentwürfe, die ich von “Freak-Freunde” kenne. Freak ist bei mir absolut positiv besetzt. Das sind die Menschen, mit denen ich zu tun haben möchte. Die sich nicht an Erwartungen anderer halten. Die gegen das System schwimmen. Das Buch war für mich ein Denkmal für alle, die anders sind oder sich anders fühlen. Das war mein Antrieb.
FH: Das ist ja eigentlich sehr inklusiv und progressiv. Auch wenn diese Geschichte um Toto traurig ist, macht sie nichtbinäre Menschen sichtbar und das ist durchaus gut und wichtig. Trotzdem wird Ihnen in ganz vielen Artikeln “radikaler Pessimismus” zugeschrieben. Ist es nicht aber auch befreiend, nicht länger eine heile Welt aufrechtzuerhalten? Liegt in diesem Zugeständnis, dass wir eigentlich als Menschen scheitern, nicht auch die Hoffnung, es besser zu machen?
SB: Sie können es Scheitern nennen, ich sagte vorhin, dass unsere Leben aus Demütigungen bestehen, die man mehr oder weniger beschadet überstehen kann und die alle gleich enden. Die Kritiken. Wer schreibt die überhaupt und sind die wichtig?
FH: Meistens werden die von Männern geschrieben!
SB: Ja, es sind meistens Männer und nichts gegen Männer, die Kritiken schreiben, das muss auch erledigt werden. Es ist doch auch schön, dass Menschen noch Kritiken schreiben, wenn ich sehe, dass Bücher immer weniger Relevanz haben. Ich finde diesen Vorwurf des Pessimismus immer völlig egal. Es interessiert mich nicht, geschönte Zustände zu beschreiben. Ich versuche, die Zeit zu erfassen, in der ich mich gerade aufhalte. Was ist eigentlich der momentane Zustand? Diese Beziehung zwischen fraternisierten Männerbünden und dem Patriarchat, der Marktwirtschaft und dem Neoliberalismus, der Diktatur und dem Populismus. Das sind zum größten Teil von Männern gemachte Entwicklungen. Wobei ich überhaupt nicht sage, dass Frauen oder queere Personen das anders machen würden. Wir haben es nur noch nicht zeigen können, ob wir es anders machen.
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FH: Aber man sieht ja jetzt auch schon durch Corona, dass Länder, die von Frauen geführt werden, etwa Jacinda Ardern oder Angela Merkel, richtig gut klarkommen und mit der Pandemie umgehen. Und im Vergleich dazu sehen wir auch, dass Trump, Macron und Bolsonaro über das Coronavirus in einer Kriegsrhetorik sprechen, als müsse man die Knarren rausholen. Also wird ja gerade schon bewiesen, dass Frauen – zumindest momentan – mit dieser Herausforderung besser umgehen als Männer.
SB: Ich wäre da vorsichtig mit Thesen, die wir nicht empirisch belegen können. Wenn die Hälfte aller Länder von Frauen regiert würde, dann könnten wir sehen, ob das wirklich funktioniert. Ob da andere Ideen oder eine andere Weitsichtigkeit entstünde. Denn es sind ja auch Frauen, die als Investmentbänkerinnen genau den gleichen Bullshit wie Männer machen. Es wäre in jedem Fall interessant zu sehen, wie sich die Welt verändern würde. Oder ist es einfach die Menschheit? Die Spezies Mensch? Steht die einfach wahnsinnig auf ihr eigenes Aussterben? Das könnte ja auch sein, dass wir einfach so eine eingebaute Obsoleszenz haben…
FH: Und gleichzeitig ist es fast schon ein Ergebnis progressiver Veränderungen – ob das etwa durch Social Media eine neue Sichtbarkeit für nichtbinäre, Trans- oder queere Menschen sind – dass es TraditionalistInnen gibt, die sagen „Was wollt ihr denn jetzt mit eurem neuen Leben oder eurer neuen Weltordnung? Früher war alles besser!“
SB: Es ist ja nicht so, dass nur wir Recht haben. In vielen Sachen haben wir natürlich Recht, weil ich an Grundsätze glaube wie etwa, dass alle Menschen gleich sind. Das heißt aber auch, dass konservative Menschen auch Menschen sind. Wenn sie dann an traditionelle Geschlechterrollen glauben, dann ist das okay. Was man durch Bildung irgendwann erreichen können müsste, wäre, dass die Menschen so klug sind, dass sie sagen “Ja, ich glaube an einen Gott, ich bin TraditionalistIn, ich glaube an mein Hausfrauendasein, mein Mann soll die Kohle ranschaffen, das Mädchen wird rosafarben angezogen. Aber es ist völlig legitim und gleichwertig, wenn andere Menschen komplett andere Lebensmodelle haben.”
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FH: Es soll ja meinetwegen auch Männer geben, die traditionelle Männlichkeit leben. Aber bitte zieht mich nicht zur Rechenschaft, wenn ich das nicht tue. Ich habe für mich festgelegt, dass ich, soweit es mir möglich ist, mich nicht justiere in meiner Männlichkeit. Das mache ich in erster Linie für mich, weil ich einfach mein Leben so leben möchte, wie es mir gefällt. Und ich weiß, dass das auch eine ganz schön privilegierte Geschichte ist, dass ich das so machen kann. Auf der anderen Seite weiß ich auch, dass wenn ich über solche Themen spreche, beispielsweise mit meiner Nichte, die jetzt vierzehn Jahre alt ist, dass ich da etwas bewirke, das in der nächsten Generation dann einfach schon mal angesprochen wurde. Das hat mir gefehlt damals. Ich habe jahrelang gedacht ein “CSD” ist einfach nur eine Party, die irgendwelche schwulen Leute feiern. Dass das mit Stonewall und Protesten in Verbindung steht, war mir einfach nicht klar. Deswegen finde ich es wichtig, dass wir darüber sprechen, damit die nächste Generation nicht wieder von vorn anfangen muss, sondern das schon mal mitbekommen hat. Mittlerweile können wir uns stärker vernetzen und näher zusammenfinden als je zuvor – nur ärgerlich, dass das Leben dadurch nicht unbedingt leichter wird.
SB: Irgendwie wird es ja doch leichter.
FH: Also ich finde dafür, dass man Ihnen immer Pessimismus vorwirft…
SB: …dafür bin ich wahnsinnig gut gelaunt! (lacht) Ich finde von daher nach wie vor die Digitalisierung großartig. Hätte es sie früher schon gegeben! Das hätte viele junge Menschen vom Selbstmord abgehalten. Es hätte viele so stark gemacht, gerade in dieser Zeit, wenn du noch nicht richtig fertig bist und du nur “normal” sein möchtest und dir keiner sagt, dass es dieses “normal” überhaupt nicht gibt.
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