Aus den Ferien komme ich immer etwas verwirrt und mitunter gedankenverloren zurück, auch, weil zu viel freie Zeit und Papierstrohhalme zwischen den Zähnen mich zwangsläufig vom Early Retirement träumen lassen. Aber nein, so richtig schweinereich werde ich wohl nicht mehr werden, was gesellschaftlich gerecht, aber egozentrisch betrachtet eben doch ein bisschen schade ist. Ich wüsste nämlich gern, wer oder wie ich wohl wäre, würde der Kapitalismus mitsamt seiner gratis Sorgen mir nicht tagtäglich wie ein olles Kaugummi an den Fersen kleben. Was ich machen, wo ich wohnen, wie ich mich kleiden, freuen und verschwenden würde – wäre interessant, zu wissen. Für was wäre ich hier? Was brächten die Tage? Wie lang wären die Nächte? Und warum? Im Grunde weiß ich also gar nichts, was mich an eines der treffsichersten Zitate aus Sibylle Bergs Roman „Die Fahrt“ denken lässt:
Öde, ja, das bin ich meistens. Und müde, auch von all den Rollenspielen. Am Morgen des ersten Schultags meines Kindes zum Beispiel habe ich mich in Abwesenheit all meiner Ideale nochmal schnell aus meiner Batik-Shorts heraus geschält und doch noch ein schlichtes Kleid für den Treffpunkt Pausenhof gewählt, bloß um zwei, drei, vier Elternteilen in Hemden und perfekten weißen Westen zumindest ein paar Tage lang vorgaukeln zu können, ist sei eine von ihnen – stets überpünktlich, wahnsinnig beherrscht und auf gar keinen Fall loco. Dabei hatte ich zwei Wochen zuvor noch ernsthaft darüber nachgedacht, auf LSD-Reise zu gehen und allerhand Süßkram zu bunkern statt einen gediegenen Kurz-Trip auf’s Land mit frisch gepflückten Erdbeeren in den Taschen zu unternehmen.
Ich weiß schon, Elternschaft und Drogenexperimente sind nicht die harmonierendsten Themen. Hierbei geht es mir aber überhaupt nicht um besagte Substanz als solche und auch nicht um den Struggle des Kindergroßziehens, sondern um das daraus resultierende Sinnbild: Was täten wir, wenn niemand zuschauen würde? Und worauf hätten wir wirklich richtig, richtig bock? Ist es überhaupt möglich, authentisch zu sein, fern von jedweder Performance? Klar, rufen jetzt sicher viele. Aber denkt doch wirklich nochmal ganz genau drüber nach.
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Der Soziologe Ervin Goffmann hält genau das nämlich für ausgeschlossen. In „Wir alle spielen Theater – Die Selbstdarstellung im Alltag“ stellt er eine der bekanntesten Theorien über Identität auf:
Selbstdarstellung geschehe so gut wie immer und zwar ebenso bewusst wie unbewusst, egal ob vor Publikum, also vor Freunden, Kolleginnen und Fremden, oder gar in privaten Räumen. Um eine Identität zu kommunizieren, erfordere es außerdem ein gewisses Maß an Selbsttäuschung. |
In ihrem Essay „The I and the Internet“ schreibt die amerikanische Schriftstellerin und Journalistin Jia Tolentino dazu:
„Eine Freundin, die dir beim Abendessen gegenüber sitzt und angesichts deiner trivialen Liebespleiten Therapeutin spielen soll, muss sich selbst einreden, dass sie nicht viel lieber nach Hause gehen und im Bett Barbara Pym lesen würde. (…) Eine Frau mag am Wochenende alleine zu Hause die Fußbodenleisten schrubben und Naturdokus schauen, obwohl sie eigentlich lieber die Wohnung verwüsten, Koks kaufen und eine Craiglist-Orgie feiern würde.“ |
Die Gründe für diese Diskrepanz zwischen wahrscheinlich recht breit aufgestellten Sehnsüchten und dem faktischen und fest gesurrten Handeln sind vielschichtig und lassen sich schlecht in wenige Worte quetschen. Mit Sicherheit sind einige der Auswirkungen unseres antrainierten Korsetts auch schwer vonnöten, sonst wäre hier womöglich die Hölle los. Bleiben wir also einfach mal bei den all den moderaten Wünschen, an denen eigentlich nichts verkehrt ist, die jedoch trotzdem permanent auf der Strecke bleiben. Einmal in Kontakt getreten mit dieser Demaskierung des eigenen Seins, lässt sie einen erstmal nicht mehr los – bis man erneut vergessen, sich angepasst und wieder gewöhnt hat. Wir alle kennen das. Aus dem Alltag, der mal langweilt und dann wieder leuchtet, je nachdem. Zum Beispiel ob wir uns der Falle, in der wir da ehrlich gesagt festsitzen, gerade bewusst sind oder eben nicht. Je nachdem, ob wir gerade die Seele baumeln lassen oder im Büro schwitzen. Je nachdem, ob wir uns gerade ein weiteres Mal glücklich konsumiert haben oder uns zum dreiundsiebzigsten Mal fragen, warum wir überhaupt so viel arbeiten und uns sorgen – wo wir doch ohnehin unerhört viele Sachen kaufen, die wir in Wahrheit vielmehr anderen vorzeigen wollen als selbst gebrauchen können. Also auf zum nächsten Knackpunkt.
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
Ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob ich längst kapituliert habe oder einfach nur wie jeder andere Mensch bin, der erst motzt, um dann im Großen und Ganzen doch wieder mitzumachen – sei es nur, um das kurze Leben, das uns bleibt, zumindest so schillernd wie möglich zu gestalten. Bleibt uns, abgesehen vom Aussteigen, also gar nichts anderes übrig, als Kompromisse einzugehen? Alles haben, die große Freiheit und zugleich sehr wenig Sorgen, ein gutes Gewissen und doch genug zum Leben, Sicherheit und trotzdem kaum Zwänge, das scheint mir nämlich, unter den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten, so gut wie unmöglich. Man nennt es auch Utopie. Weil der Kapitalismus nunmal nichts erfundenen ist. Er ist das, was passiert, wenn man Menschen einfach machen lässt.
Dass es einfach ist, alles anders zu machen, hat jedenfalls niemand behauptet. Die meisten von uns, die kapiert, aber viele Fragen haben, fangen deshalb im Kleinen an. Womit wir schlussendlichzschlussendlich zum Anfang zurückkehren, da Dauerwurst.
Was würden wir mit unserem Leben anstellen, gäbe es erstens kein Müssen und zweitens niemanden, der dabei zusähe?
Wer das herausgefunden hat, hat schon viel geschafft und kommt zumindest nie wieder auf die bescheuerte Idee, eine wilde Batikhose nur deshalb gegen die gebügelte Vorzeige-Garderobe einzutauschen, weil es der Anstand angeblich gebietet.