(Foto: Eylül Aslan) Seit 2018 schreibt die in Berlin lebende Schriftstellerin Carmen Buttjer über feministische Fragen, Unabhängigkeit, Sexualität, Gleichberechtigung und andere Utopien. Für VOGUE trifft sie in ihrer Serie „21st Century Women“ Frauen jeder Generation und jeden Geschlechts und redet mit ihnen über dieselben Fragen – in dieser Episode mit Seyran Ateş, Anwältin, Imamin und Gründerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin.
Seyran Ateş ist Rechtsanwältin, Autorin, Menschenrechtlerin und Imamin. Im Juni 2017 gründete sie in Berlin die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, in der nicht nur Sunniten, Schiiten, Sufis und Aleviten aufeinandertreffen, sondern auch Männer auf Frauen, um ungeachtet ihrer Glaubensrichtung, ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung, gleichwertig und gleichberechtigt miteinander zu beten. Die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee liegt im Süden von Moabit, unser Gespräch findet zwei Stunden vor dem Freitagsgebet statt.
Carmen Buttjer: In einem Ihrer Texte habe ich diesen Satz gelesen: “Wer integrieren will, muss sich an der Situation der Frauen orientieren.” Warum ist gerade der Alltag von Frauen so gut geeignet, um gesellschaftliche Fragen abzuhandeln?
Seyran Ateş: Die Gleichberechtigung der Geschlechter und das, was man im Hinblick darauf bisher erreicht hat, ist wie ein Lackmus-Test. An den Lebensrealitäten von Frauen, und damit meine ich wirklich den Querschnitt, kann man sehen, inwiefern innerhalb einer Gesellschaft Demokratie und Solidarität existieren; inwiefern jeder Mensch nicht nur in den Sonntagspredigten als gleichwertig vor Gott gepriesen wird, sondern tatsächlich auch im Alltag.
Carmen Buttjer: Warum sind Frauen in der islamischen Gesellschaft nicht gleichberechtigt, obwohl im Koran das Gegenteil steht?
Seyran Ateş: Ungleichheit und die Diskriminierung von Frauen sind Grundprinzipien des Patriarchats. Und das wiederum betrifft die ganze Welt. Es existiert in jedem Land, unabhängig von der Religion, der Ethnie und der Kultur. Deswegen findet sich das Patriarchat natürlich auch in der Religion wieder, was aber nicht bedeutet, dass die Religion deswegen patriarchisch sein muss.
Carmen Buttjer: Das bedeutet, dass nicht der Koran diskriminierend ist, sondern die Gelehrten, die den Koran auslegen?
Seyran Ateş: Ich selbst habe verschiedene Ausgaben des Korans und weiß nicht, welcher Übersetzung ich wirklich glauben kann. Das Hocharabisch des Korans sprechen nur sehr wenige Menschen. Außerdem muss der Prophet nicht einmal Hocharabisch gesprochen haben. Vielleicht sprach er auch Aramäisch. Es gibt von einem anonymen Autor eine syro-aramäische Übersetzung des Korans. Darin nähert er sich dem Koran über die Sprache und versucht, bestimmte Zusammenhänge auch daraus zu erklären. “Huri” zum Beispiel, der arabische Begriff für Jungfrauen, die Männern gerne im Jenseits versprochen werden, bedeutet im Syro-Aramäischen “Trauben”. Das heißt, anstelle der Jungfrauen wartet dann ein Obstteller im Jenseits auf die Männer.
Deswegen ist für Ihre ursprüngliche Frage vor allem die Entstehungsgeschichte, die Entwicklung des Islams und das, was nach dem Tode des Propheten passiert ist, viel wichtiger und weniger das, was im Koran steht, der uns aktuell als authentisch vorgelegt wird. Der Prophet starb, es gab keine Nachfolge und es entstand ein Nachfolgestreit. Während dieses Nachfolgestreits sehe ich einen wichtigen Schnittpunkt, denn das war die Zeit, in der die Überlieferungen des Propheten entstanden sind. Es gab zunächst vier Personen aus dem engeren Kreis des Propheten, die als Kalifen in Betracht kamen und schließlich nacheinander auch Kalifen wurden. Es wurde zum Beispiel darüber gestritten, ob jemand aus der Familie oder ein Verbündeter die Nachfolge antreten soll, aber zu keinem Zeitpunkt kam eine der Frauen des Propheten dafür in Frage. Beispielsweise Aischa – und das, obwohl sie am meisten Zeit mit ihm verbracht hatte und deswegen auch das, was er gesagt hatte, am besten überliefern konnte. Im Hinblick auf die Überlieferungen, die Hadithe, habe ich große Zweifel, ob wir den sogenannten Überlieferern wirklich trauen und glauben können. […]
Gleichberechtigung im Islam: (Eigentlich) eine lange Tradition
Carmen Buttjer: Dass Frauen und Männer hier in der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee zusammen beten, stört Ihre Kritiker am meisten. Dabei ist mir aufgefallen, dass es immer wieder um theologische Belege dafür ging. Dasselbe passiert, wenn es zum Beispiel um die Trauung von gleichgeschlechtlichen Ehen im Islam geht. Warum muss es einen theologischen Beleg aus dem Koran dafür geben, wenn die Gesellschaft, in der wir leben, ohnehin nicht dieselbe ist wie die, in der die Schriften des Korans entstanden sind?
Seyran Ateş: Die meisten, die uns kritisieren, kommen nicht mit guten theologischen Argumenten, sondern mit Drohungen, und sind nicht bereit, sich zu bewegen. Damit meine ich, dass sie eine Wahrheit haben und nicht akzeptieren können, dass es noch eine andere Erzählung gibt. Der Islam beginnt im Jahre 610 und ist somit eine Religion, die 1410 Jahre alt ist. Seit mehr als 1400 Jahren beten Männer und Frauen in Mekka gemeinsam. Nachweislich gab es schon zu Zeiten des Propheten Kriegerinnen, weibliche Gelehrte und auch Imaminnen. Seit über 300 Jahren gibt es daneben in China eine Tradition von Frauenmoscheen, was im Westen kaum jemand weiß. Aus den frühen Jahren des Islam gibt es auch Belege dafür, dass der Prophet erlaubte, dass Frauen vor einer gemischten Gruppe predigen und vorbeten.
Nun komme ich zurück zu Ihrer Frage, warum das im 21. Jahrhundert belegt werden muss. Dasselbe habe ich mich auch gefragt. Ich denke, die Beweislast dafür, dass Frauen und Männer nicht gemeinsam beten dürfen, dass Frauen die Rolle der Imamin nich zusteht, dass gleichgeschlechtliche Ehen nicht geschlossen werden dürfen, dass Homosexualität verboten ist, dass Frauen ausschließlich mit Kopftuch beten sollten – diese Beweislast liegt bei denjenigen, die behaupten, dass das verboten ist.
Wenn wir nach dem Freitagsgebet und nach der Predigt Gesprächsgruppen bilden, kommen dieselben Fragen auf. Diejenigen, die zu uns kommen und zur LGBT-Community gehören, stehen oft in dem Zwiespalt, sich entweder für ihre Religion oder ihre sexuelle Orientierung entscheiden zu müssen. Deshalb gründeten wir das Projekt “Anlaufstelle Islam und Diversity”, das vom Familienministerium im Rahmen des Programms “Demokratie leben!” finanziert wird.
Carmen Buttjer: Braucht der Islam eine sexuelle Revolution, damit Diskriminierung nicht mehr durch Religion gerechtfertigt wird?
Seyran Ateş: Ja, es gibt keine sexuelle Befreiung im Alltag der islamischen Welt und damit auch kein sexuelles individuelles Selbstbestimmungsrecht in dem Verständnis der Orthodoxen und Konservativen. Männer bestimmen über den Körper der Frauen und Eltern bestimmen über den Körper der Kinder. Als Familienrechtsanwältin habe ich so viele Ehen von jungen Menschen geschieden, die nur geheiratet haben, weil sie legal Sex miteinander haben wollten, nachdem sie sich kennenlernten. Aber die Ehe sollte nicht die Legalisierung des Geschlechtsverkehrs sein, sondern eine verbindliche Verantwortlichkeit. Sexualität ist etwas so Intimes, dass keine Institution, keine Religion und auch keine Regierung das Recht hat, sie einzugrenzen oder darin einzugreifen.
Ein Jahr bevor ich diese Moschee eröffnete, pendelte ich zwischen der Türkei und Berlin. Ich war gerade dabei, mir eine Kanzlei in Istanbul aufzubauen und reiste währenddessen auch tief in den Osten der Türkei und ans Schwarze Meer, um Männer als auch Frauen zu interviewen. Dabei habe ich immer wieder gemerkt, wie patriarchal die Strukturen im Alltag sind, bis hin zur Trennung der Geschlechter innerhalb der Wohnung – und damit komme ich auf Chadīdscha bint Chuwailid zurück. Solange die islamische Gesellschaft nicht anerkennt, dass diese Fragen gestellt werden müssen und dass wir am Anfang unserer Entstehungsgeschichte und unserer Religion ein gleichberechtigtes Paar hatten, das uns im Grunde ein großes Vorbild sein kann, werden wir nicht weiterkommen.
Das gesamte Interview mit Seyran Ateş, geführt von Carmen Buttjer, könnt ihr bei Vogue Germany lesen. |