Lisa Ludwig arbeitet als Journalistin für Politik und Popkultur in Berlin. Sie ist Single, Anfang 30 und besitzt weder Küchenmaschine noch private Altersvorsorge. Dafür aber mehrere Spielkonsolen. Ist das noch jung und aufregend oder doch schon ein alternatives Lebensmodell? In ihrer Kolumne „(Un)erwachsen“ widmet sich Ludwig dem gesellschaftlichen Graubereich zwischen Kater und Kinderwunsch. In dieser Folge geht es um deprimierende Zeiten und wie vielleicht nur Morpheus aus “Matrix” uns helfen könnte, ihnen zu entkommen.
Es gibt eine Filmszene, die ich nie verstanden habe. Neo, Protagonist des Sci-Fi-Klassikers “Matrix” und Auserwählter Retter der Menschheit™, wird von seinem neuen Bekannten Morpheus vor eine alles entscheidende Wahl gestellt: Schluckt er eine blaue Pille und alles bleibt, wie es ist? Oder nimmt er die rote und erfährt, warum sein ganzes bisheriges Leben eine Lüge war? Neo entscheidet sich für die rote Pille und findet heraus, dass er gar nicht in einer US-amerikanischen Großstadt Ende der 90er lebt, sondern in einem dramatisch ausgeleuchteten Glascontainer. Er ist kein langweiliger Angestellter einer IT-Firma, sondern eine menschliche Batterie für Maschinenwesen – die einzigen Organismen, die noch frei in einer düsteren, komplett zerstörten Welt leben. Cool.
Klar, das konnte er vorher nicht wissen. Morpheus hat nicht gefragt: “Willst du in einer okayen Lüge leben oder in einer abgefuckten Welt ohne Cremant und trockene Minisalamis, in der jeder löchrige Schlabberpullis in Grau- und Beigetönen tragen muss, die aussehen, als wären sie aus der vorletzten Yeezy-Kollektion?” Aber sollte Neo seine Pillenwahl nicht spätestens dann bereuen, als ihm klar wird, was für eine Shitshow diese vermeintliche Realität wirklich ist?
Alles, was danach in “Matrix” passiert, ist für mich von der absoluten Dummheit dieser Entscheidung überschattet. Die einzige Person, mit der ich auch nur im Ansatz mitfühlen kann, ist Cypher, der ebenfalls von Morpheus “gerettet” wurde. Cypher hat zwar die Art von überzeichnetem Scherzbart, die ihn direkt als noch unerkannten Neben-Antagonisten enttarnt, aber in einer Sache absolut Recht: Er will zurück in die Simulation. Und bereut nichts mehr als den Moment, in dem er sich für die rote Pille entschieden hat.
Als “Matrix” rauskam, war ich 10. Den Film habe ich erst Jahre später gesehen, Realitätsflucht war für mich aber schon lange davor ein Thema.
Denn seien wir mal ehrlich: So richtig geil war das echte Leben noch nie. Die Menschen, die man liebt, sterben. Wer nicht weiß, heterosexuell, cis ist, wird dafür angegriffen, verfolgt, diskriminiert. Vielleicht lebt man mit einer Krankheit, vielleicht in Armut, vielleicht in einem Kriegsgebiet, vielleicht auch alles auf einmal. Und selbst wenn man sich gemütlich unter dem gerahmten “Hygge”-Bild in seiner Eigentumswohnung eingemummelt hat, die immer sauber ist, weil man anderen Menschen Geld dafür gibt, dass sie für einen Haare aus dem Duschabfluss fischen – irgendwas ist ja immer. Wenn uns der Klimawandel nicht den Rest gibt, dann sind es frauenhassende Neonazis, die ausschließlich mittels rassistischer Memes und Fortnite-Tänze kommunizieren, und sich auf 4chan dafür beglückwünschen, die “Red Pill” geschluckt zu haben und endlich zu verstehen, dass weiße Männer die eigentlichen Opfer dieser Welt sind. Cool, cool. cool. Kann ich die blaue Pille nochmal sehen?
Als Teenager hatte ich eine Lieblingsserie: “The Tribe” spielte in einem apokalyptischen Endzeit-Szenario, in dem alle Erwachsenen tot waren und die verbliebenen Kinder damit kämpften, eine irgendwie funktionierende Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Der für mich spannendste Bösewicht, Ram, konnte es nicht mehr ertragen, in dieser Welt gefangen zu sein. Also baute er sich eine virtuelle Realität, in der alles schöner, besser, erträglicher war. In der er nicht länger im Rollstuhl saß, sondern laufen konnte.
Realitätsflucht bedeuteten für mich damals vor allem Bücher, Schreiben, Zeichnen, Videospiele. Alles, was mir für Stunden das Gefühl gab, mich nicht mit der Wirklichkeit auseinandersetzen zu müssen. In der Realität hatte ich eine chronische Krankheit, wurde ich wegen meinem Körper gemobbt und musste dabei zusehen, wie meine Familie kaputtging. In meiner eigenen Version der Matrix, meiner ganz persönlichen Simulation, lief ich gedanklich mit Romanfiguren durch das Rom der Antike, zeichnete ich stundenlang Körper, die schöner waren als mein eigener, spielte ich “Super Mario Land” auf dem Game Boy, bis mich ein hysterischer Wutanfall wegen eines verkackten Sprungs im vorletzten Level zurück in die Realität holte.
Heute leere ich nach einem besonders stressigen Arbeitstag drei Gläser Wein und nenne es Self-Care, mache damit aber eigentlich auch nichts anderes, als die Realität ein bisschen dumpfer, wärmer, erträglicher zu machen. Wie Millionen andere verantwortungsvolle Erwachsene. Ich liege stundenlang apathisch vor dem Fernseher auf der Couch und nur Netflix fragt, ob ich eigentlich noch lebe. Ich will überall sein, nur nicht im Jetzt, wo jede neue Nachricht das Potenzial hat, das endgültige Ende der Zivilisation zu verkünden. Stürzen ein abgehalfterter Schlager-Star und ein ehemals veganer Koch die Regierung und verdammen uns alle dazu, an Corona zu sterben? Drückt Donald Trump den großen Atomwaffenknopf, wenn er die kommende US-Wahl verliert? Who knows. Wir leben im Jahr 2020 und mein Kindheitsidol Aaron Carter schält auf kostenpflichtigen Porno-Portalen nackt Bananen mit seinen Füßen – was soll denn NOCH passieren?
Der Philosoph Nick Bostrom stellte Anfang der 2000er mit seiner Simulationshypothese die Frage, ob wir nicht alle in Computersimulationen leben. Es gibt mehrere Subreddits für Menschen, die der festen Überzeugung sind, dass dem so ist. Donald Trump und Aaron Carters Füße wären in ihrer Logik Glitches, also Beweise dafür, dass die Simulation nicht mehr richtig funktioniert. In “Matrix” ist die falsche Realität nur deswegen nicht eine Art simulationsgewordener Himmel, in dem alle ständig glücklich sind, weil die Menschen misstrauisch geworden sind. Die Welt war zu perfekt. Die Welt, in der wir leben, wird hingegen zunehmend absurder, und auch das fühlt sich irgendwie falsch an. Kann das noch echt sein?
Ich habe keine Ahnung, ob wir in einer Computersimulation leben. Wahrscheinlich nicht. Es gibt allerdings eine Sache, von der ich absolut überzeugt bin: Who cares, wenn alles, was wir erleben, eigentlich gar nicht wirklich da ist? Wenn wir es als real empfinden, macht es für uns absolut keinen Unterschied, ob wir in einer Simulation leben oder nicht. Und wer sagt uns eigentlich, dass das, was wir vermeintlich real erleben, die ultimative Wahrheit ist?
Es gibt eine Krebsart, die zehnmal so viele Farben sehen kann wie wir. Viele Vögel haben Muster auf ihrem Gefieder, die wir nur wahrnehmen können, wenn wir sie unter Schwarzlicht halten. Was für uns absolute Stille ist, klingt für andere Spezies wie ein Samstagabend in der Berliner U-Bahn. Vielleicht sind wir nicht an Maschinen angeschlossen, dafür entscheiden unsere Gehirne mittels Seh-, Geschmacks- und Tastnerven darüber, was wir wahrnehmen und was nicht. Am Ende existiert jeder von uns in seiner ganz eigenen Abstufung der Realität.
Sollte irgendwann ein Mann mit einer abgefahrenen Sonnenbrille in meinem Leben auftauchen und mich vor eine binäre Wahl stellen, weiß ich in jedem Fall, wie ich mich entscheide: Lieber weiter in der Simulation aka der Realitätsflucht bleiben. Gib mir die blaue Pille, Morpheus. Packt mich in eine futuristische Badewanne und saugt mir alle Energie aus dem Körper, ihr Maschinengötter. Hauptsache ich muss keinen weiteren Tag in einer Welt leben, in der es ständig neue apokalyptische Breaking News und Twitter gibt.
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VOGUE COMMUNITY– Dieser Text von Lisa Ludwig wurde zuerst bei der deutschen Vogue veröffentlicht – |