„Eine weitere Diagnose lautet ‚soziale Phobie‘“, höre ich die Psychiaterin freundlich sagen und muss unter meinen Tränen schon fast ein bisschen lachen. Manchmal passiert mir das. Dass ich lachen muss, obwohl die Situation überhaupt nicht lustig ist, meine ich. Ich glaube, da läuft in meinem Gehirn irgendwas nicht richtig, vielleicht aber ist es auch bloß überfordert. Verübeln könnte ich es ihm jedenfalls nicht. Der Begriff „Soziale Phobie“ zumindest klingt so dämlich und falsch, dass ich ihn am liebsten ablehnen würde. Nein, danke, ich brauch’ nix, ich hab’ schon. Überhaupt, was soll das schon heißen? Angst vor Menschen? Blödsinn. Angst habe ich seit jeher bloß im Dunkeln, nachdem ich mal wieder versehentlich eine Horror-Serie angeschaltet oder an den Tod gedacht habe. Aber doch nicht vor Menschen. Oder?
Na gut, um größere Menschenmengen mache ich einen Bogen und auch Treffen mit Personen, die ich nicht oder kaum kenne, schiebe ich ewig auf. Vorträge und Präsentationen halten zu müssen, löste in mir schon immer eine wirre Derealisation, also einen Zustand, in dem mir die Umwelt fremd und surreal erscheint, aus, während der bloße Gedanke an Small Talk für Herzrasen sorgt. Gerade als ich mich daran erinnere, dass mich Freund*innen früher als schüchtern bezeichneten, höre ich die Psychiaterin erklären, dass soziale Phobie natürlich nichts mit Schüchternheit zu tun habe. Und auch als „Angst vor Menschen“ sei die Diagnose nicht zu verstehen. Ach so. Nein, natürlich nicht.
Vielmehr nämlich sei es die Angst, von anderen Personen als merkwürdig, peinlich oder lächerlich empfunden zu werden, weshalb jegliche Situationen vermieden werden. Und ja, insgeheim staune ich ganz schön, als ich merke, wie sehr ich mich in dieser Aussage wiederfinde. Gerade eben noch, da starrte ich auf den Boden, während ich an einem voll besetzten Bus vorbeilief und mit aller Gedankenkraft versuchte, unsichtbar zu werden, bloß damit ich nicht zum Zentrum der Blicke werde. Die Laugenbrezel, die ich mir kurz zuvor kaufte, hatte ich in diesem Moment schon tief in meine Tasche geschoben — dass ich alleine in der Öffentlichkeit esse, mache ich schon seit meinen jungen Teenie-Jahren nicht mehr, dachte aber, dass es bloß eine weitere Marotte meiner Essstörung sei. Ja, das kann sein, könne aber eben auch mit der sozialen Phobie einhergehen, erklärt mir die Stimme aus dem Off, da nämlich komme es oft vor, dass Menschen sowohl das Essen als auch das Reden in der Öffentlichkeit vermeiden, um nicht be- oder verurteilt werden zu können.
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Ehrlicherweise ist mir bereits dieses Gespräch mit meiner Therapeutin wahnsinnig unangenehm. So sehr, dass ich beim ein oder anderen darauffolgenden Fragebogen, den ich in regelmäßigen Abständen ausfüllen muss, ein wenig schummle, um wenigstens ein bisschen normaler zu wirken. Ob ich in den vergangenen vier Wochen soziale Kontakte gemieden hätte, steht da. Ich kreuze „stimme eher nicht zu“ an, obwohl das glatt gelogen ist. Ich frage mich, ob ich gerade wirklich Angst habe, von meiner Therapeutin verurteilt zu werden oder ob nicht vielleicht ich selbst die Person bin, die ich versuche, zu überzeugen. Die Antwort winkt mir wenig später hämisch zu, als ich in den Spiegel blicke. Mein Spiegelbild weiß natürlich auch, dass ich meinen letzten sozialen Kontakten betrunken begegnet bin, nachdem ich meinen Freund die zehn Wochen zuvor abgewimmelt habe. „Nein Quatsch, ich bin müde, geh du nur alleine, es sind ja auch deine Freunde“, habe ich immer gesagt. Dass bereits der bloße Gedanke an all die musternden Blicke und neuen Gesichter Herzrasen und ein merkwürdig unregelmäßiges Atmen in mir auslösten, behielt ich lieber für mich. Um mich am Abend des ersten Aufeinandertreffens vor einer Panikattacke zu schützen, hielt ich mich schließlich an meiner Weinflasche fest, während ich alleine auf dem Sofa saß und mein gewähltes Unglück aus der Ferne beobachtete. Und auch wenn der restliche Abend in meinem betrunkenen Kopf gar nicht mehr so schlimm, ja zuweilen sogar wirklich lustig war, fühlte ich mich, zu Hause angekommen, so als hätte ich gerade die stressigste Klausurenphase hinter mich gebracht.
Es ist nämlich so: Soziale Phobie hat nichts damit zu tun, Freund*innen einmal abzusagen, bloß weil man mehr Lust auf Fernsehen hat — auch, wenn das in den sozialen Medien gerne mal suggeriert wird. Über „Social Anxiety“ stolpert man hier nämlich etwa genauso häufig wie über „OCD“, über die inflationäre und falsche Verwendung wird hier gerne mal hinweggesehen. Eine soziale Phobie aber ist die ständige Angst, (negativ) beurteilt zu werden, in allem, was man tut. Sie schränkt dich ein, gibt dir immer wieder zu verstehen, dass du als bloße Person nicht ausreichst, dass deine Makel und Fehler ein wirkliches Problem sind und ja, sie kann im schlimmsten Fall sogar verdammt einsam machen. Dass sie aber auch nichts ist, wofür man sich schämen muss, habe ich mich mittlerweile begriffen und weiß: Müsste ich heute noch mal einen dieser therapeutischen Fragebogen ausfüllen, würde ich ganz bestimmt ehrlich sein. Ob ich soziale Kontakte in den vergangenen vier Wochen gemieden habe? „Stimme eher zu“.