Hallo, wie geht es euch gerade? Ich frage das auch, weil mir erst gestern aufgefallen ist, wie wenig Kontakt ich in letzter Zeit zur Außenwelt hege. Zur richtigen, teils fremden, meine ich. Ohne Unterstützung von Telefon und Internet.
Natürlich soll das auch so, wir stecken immerhin in einer globalen Pandemie (während ein paar ganz niedere Verschwörungstheoretiker*innen trotz erdrückender Fakten weiter von Kinderblut fantasieren und munter Menschenleben gefährden). Neulich brach ich jedoch meinen persönlichen Rekord: 13 Tage lang hatte ich das Haus nicht verlassen, unabsichtlich aber freiwillig, ohne Quarantäne. Ich liebe nämlich Besuch, nur das Besuchen gerade nicht. Auch das Kind wollte sich nach eineinhalb Wochen Homeschooling ohnehin lieber wieder morgendliche Radrennen mit dem Bonuspapa liefern und ich wehrte mich, schweinefaul wie ich in Zeiten von #SocialDistancing nunmal wurde, kaum gegen diese Aufteilung der Pflichten. „Mama, du alte Bimmelbahn – kannst ja schon mal arbeiten, stimmt’s?“. Prächtig fühlt man sich da und besonders gut geeignet als ebenso lebensnahes wie lebensbejahendes Vorbild. „Was hast du 2020 von deiner Mutter gelernt?“ – „Lieferando.“ Ja, mir kommen Talent und Tatendrang derzeit nur so aus den Ohren heraus gedampft, nicht.
Als jedenfalls alle mit ein bisschen Verspätung („Wo sind die sauberen Masken???“) verschwunden waren, starrte ich einen Moment lang beschämt auf meine Pantoffeln, ich kratzte mich am juckenden Kopf, während ich überlegte, ob ich gestern Abend oder doch schon am Tag zuvor das überfällige Bad genommen hatte, dann piepte es in meiner Hosentasche. Eilmeldung. Das Land Berlin klagt gegen Arschgesicht Seehofer und das Bundesinnenministerium, damit Berlin endlich Geflüchtete aufnehmen kann. Ein Hoffnungsfunken, aber keine Zeit. Es war nämlich fast geschafft. Nur noch ein schneller Griff, ein großer Schritt, eine kleine Überwindung – zack. Draußen ist schließlich draußen. Und so stand ich auf einmal auf dem Balkon, aber auch ein bisschen neben mir, atmete tief durch, ließ meinen Blick in die ungewohnt menschenleere, urbane Weite schweifen und ging schnell wieder zurück, über die Küchenschwelle, rein in die wohlig warme Wohnung, ganz so, als sei ich gerade in aufgeregter Armwedelsprache von ein paar Außerirdischen dazu angehalten wurden, bitte wieder umzukehren, weil zu gefährlich dieser Planet Erde. Seither fühle ich mich, als sei die Welt nichts mehr für mich. Und Hunderttausende Kilometer weit entfernt.
Nur an den Kältebus dachte ich noch kurz und auch daran, dass ich es womöglich verdient hätte, an meinen Privilegien und dem extra großen Adventskranz zu ersticken. Ruhe bedeutet ja immer auch: Gelegenheit zur Reflexion.
Am Wochenende fragte mich die gute Freundin, die da auf meinem Sofa saß, ob ich Lust auf einen Spaziergang hätte, mir täte das sicher gut, so ein bisschen frischer Wind im Hirn, außerdem wäre da ja die Sache mit meiner mentalen Gesundheit. Aber Kokolores. Es war schließlich schon dunkel und auch kalt, weshalb ich schnell Kekse aus der Küche holte und ein Ablenkungsmanöver startete. Schnell schütte ich mein Herz aus, es hatte nämlich einen Budenkoller-Streit im Paradies gegeben, nur standen die Koffer so weit oben in der Abstellkammer, dass ich selbst nicht ran kam, weshalb ich durch die Wohnung brüllte: „Hol mir da jetzt sofort einen Koffer runter, ich schlafe nämlich ein paar Tage woanders, du gehst mir auf die Nerven!“ „Welchen Koffer denn genau!?“ – „Alle!!!“
Ein solches Verhalten sei dieser Tage völlig normal, antwortete die Freundin und gestand, dass sie seit drei Wochen wieder heimlich rauche, nicht auf Lunge, aber voller Inbrunst, nur um abends noch mal schnell eine Runde drehen zu können, alleine, in trauter Zweisamkeit mit der Kippe. Warum nicht ohne, wunderte ich mich, aber klar: „Weil ich doch nicht einfach so ohne triftigen Grund oder Sucht raus gehen würde in diese Tristesse, ich bin doch nicht irre.“ Stimmt.
Apropos Sucht. Ich war noch nie nach etwas anderem als Nikotin oder Cola süchtig, dachte im Sommer sogar noch, wie schön dieses Jahr ohne volle Kneipen und fette Parties doch werden könnte, wie herrlich ruhig, aber faktisch vergingen seit dem Abi nunmal keine zwei, drei Monate mehr, ohne dass ich mich mindestens ein Mal gepflegt aus dem Leben geschossen hätte, mit was auch immer. Dieses wasauchimmer felt mir. Mehr als ich geahnt hätte. Weil es so herrlich unvernünftig ist und ganz unspektakulär aber ehrlich Spaß macht. Spaß ist derzeit so schrecklich rar gesät. Was würde ich in diesem Moment also dafür geben, heute Abend auf einem stinknormalen Geburtstag eingeladen zu sein, mit der Aussicht auf einen Sonnenaufgang auf dem Tempelhofer Feld. Wie die Sardinen in ein Wohnzimmer gequetscht, aus ein und demselben Becher schlürfend, kuschelnd und kichernd, neben dem warmen Licht einer Lavalampe, in Nostalgie und Nächstenliebe ersaufend. Mittlerweile fände ich es geradezu besänftigend, jemandem beim Brechen das Haar zu halten, einfach, weil es verbindet.
Fragt sich nur, ob ich überhaupt noch die Kraft dazu hätte. Gestern habe ich aus reiner Neugier beim Zähneputzen sechszig Kniebeugen hingelegt, wie früher. Schweiß lief mir von der Stirn, während die Bürste an meinen Backen vibrierte. Heute bewege ich mich wie der Stockmann aus Axel Schefflers berühmten Kinderbuch. Alls tut weh, vom Fuß bis zum Arsch, der während der letzten Monate außerdem eine Etage tiefer gerutscht ist. Was mit Wohnzimmer-Yoga, Fahrradausflügen und einer extra Portion Motivation begonnen hat, ist inzwischen zu einem flüchtigen Gedanken verkommen. Ich könnte morgen mal die Treppe statt den Aufzug nehmen, schwöre ich mir allabendlich, aber dann ist jedes Mal die Mülltüte oder das Gemüt so schwer.
Immerhin verknalle ich mich neuerdings wieder, auf Nummer sicher, in Schlafanzug oder Jogginghose, ohne physischen Kontakt, ich habe also vielleicht nicht mehr alle Tassen, aber noch alle Gefühle im Schrank. Für ganz unterschiedliche Leute. Es kribbelt dann richtig im Bauch, vielleicht, weil es so ungewohnt ist, einen fast unbekannten Menschen anzuglotzen oder ihm zu lauschen. Ich chatte sogar, ein bisschen wie in Tinder-Zeiten, als sei der Bildschirm mein Straßen-Café, nur, um meinem Freund geläutert vom schlechten Gewissen schon eine halbe Stunde später alles zu beichten und doch nicht zur Verabredung an der Straßenecke, die genau in der Mitte zwischen Zuhause und Versuchung liegt, zu erscheinen. Meine Mutter findet mein Verhalten dennoch schäbig, ich hingegen sage: Was soll Mensch denn tun, wenn das ganz normale, unschuldige Flirten des Alltags plötzlich Geschichte ist? Gegenwartsbewältigung kommt schließlich in vielen Farben. Und who are you to judge.
Henning May singt derweil zum achtundsiebzigsten Mal in mein Ohr:
Ich muss mich zwingen, ein paar Stunden keine Nachrichten zu lesen
Fühlt sich an, als wäre gestern alles halb so wild gewesen
Und morgen könnte alles anders sein (…)
Ich muss mich zwingen, ein paar Stunden mein Handy wegzulegen
Fühlt sich an, als wäre gestern alles halb so wild gewesen
Und morgen könnte alles, alles anders sein
Sollte irgendwann wirklich wieder alles anders und hoffentlich besser werden, dann wissen wir immerhin, wofür wir den Verstand verloren haben.
Oder, um es in El Hotzos Worten zu sagen:
Werde mich bei erster Gelegenheit impfen lassen.
Aber nicht, wegen des Schutzes. Sondern nur, um so wenig Gemeinsamkeiten wie möglich mit Impfgegner*innen zu haben.
Genau genommen bin ich noch nicht einmal für eine Impfpflicht. Ein Impfverbot scheint mir plausibler – für ihr wisst schon wen alles.