Gestern Abend klingelte der Nachbar bei uns, wie ein Schreihals stand er da und donnerte drauf los, schon wieder. Wir seien Terroristen, oder nein: Das Kind sei einer. So ging das dann ein bisschen weiter. Kurz habe ich überlegt, wie immer ruhig zu bleiben, ihm zu erklären, dass wir zwar Rücksicht nehmen können, aber auch leben müssen, dass die Schulen nach wie vor geschlossen und wir ohnehin den halben Tag an der frischen Luft sind, aber ich ließ es diesmal bleiben. Auch wegen der Gewissheit, dass dieser ewig motzende Mensch fast alleine auf 180 Quadratmetern lebt, in denen man sich sogar vor einer stampfenden Elefantenherde in Sicherheit bringen könnte.
Also setzte ich aufgeblasen wie ein Luftballon zum verbalen Gegenschlag an, bis mir die Puste ausging. In seine Wohnung zurück gebrüllt habe ich ihn, in ebenbürtiger Lautstärke, nicht verzweifelt, sondern sehr bestimmt. Ich habe nämlich keineswegs die Fassung verloren, sondern diesem erwachsenen, plärrenden Mann ganz bewusst einen Spiegel vorgehalten als nichts anderes mehr half und endlich eine klare Grenze gezogen. Signalisiert: Nicht mit mir. Es reicht jetzt.
Da war plötzlich, zum ersten Mal seit Monaten, Ruhe im Karton. Eigentlich ein Erfolg.
Die folgenden Stunden verbrachte ich trotzdem mit Schwermut. Ich warf mir Impulsivität vor, rekonstruierte jedes meiner Worte, fühlte mich trotzig und hysterisch (obwohl ich dieses Wort aufgrund seiner Historie überhaupt nie wieder aussprechen oder denken wollte), aber vor allem: lächerlich aufbrausend. Dabei war ich in Wahrheit nur zurecht sehr wütend geworden. Mehr noch: Ich habe mich auf die in diesem Fall einzig wirksame Weise verteidigt, Raum eingenommen und mir Gehör verschafft, wo ich in der Vergangenheit nur Prellbock gewesen war.
Warum aber fühlte ich mich dann so schuldig?
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Weil man Menschen nicht anbrüllt, na klar. Aber vor allem: weil ich es nie anders gelernt habe. Niemand hat je gesagt: Toll, deine Wut. Lass alles raus, gut gemacht und richtig so.
Dabei kann Wut unendlich wichtig sein. Vor allem in Momenten, die viel schwerer wiegen als ein unangenehmer Streit mit einem offenkundig misogynen Nachbarn. Wirklich wütend bin ich über ganz andere Dinge.
Zum ersten Mal kam ich durch Chimamanda Ngozi Adichie ernsthaft mit dem Thema „Female Anger“ in Berührung, etwa 2014. Bis dahin wäre mir wahrscheinlich noch nicht einmal in den Sinn gekommen, dass „weibliche Wut“ überhaupt der Rede wert sein könnte. In ihrem Essay „We should all be Feminists“ schreibt die nigerianische Schriftstellerin:
Da machte es klick. Es stimmt ja. Bis heute geht die Gesellschaft anders mit wütenden Mädchen um, als mit wütenden Jungs. Boys will be boys. Werden wir groß, ändert sich an dieser Schieflage nicht viel. Amerikanische Studien zeigen: Wird ein Mann wütend, werden zumeist die äußeren Umstände verantwortlich gemacht oder sogar andere Beteiligte. Hält eine Frau jedoch nicht mit ihrer Wut hinterm Zaun, wird tendenziell der Charakter als Erklärung herangezogen, das wütend sein als Wesenzug definiert. Nein, weibliche Wut gilt nicht als „very likeable“. Das fanden Victoria Brescoll und ihre Kolleg*innen ebenso heraus wie die Tatsache, dass Frauen, die Wut zeigen, vermehrt mit negativen Konsequenzen rechnen müssen. Männer hingegen ernten im besten Fall sogar Applaus.
Komisch. Wo Wut doch tatsächlich geschlechtsneutral ist. Im gängigen Narrativ von Weiblichkeit kommt es allerdings viel zu selten vor. Ernstgemeinte Wut findet quasi nicht statt, auch nicht in den Medien. Außer eine Frau dreht in und unter den Augen der Öffentlichkeit völlig durch. Wir erinnern uns zum Beispiel an das US Open Finale 2018, das eine hitzige Debatte über das „hysterische“ Verhalten von Serena Williams auslöste, die auf dem Spielfeld wütend geworden war und sich schließlich gegen die sexistische Beurteilung ihres Verhaltens wehrte. Nein, wenn weibliche Wut überhaupt sichtbar wird, dann mit Sicherheit nicht als gesundes, gutes Gefühl. Sondern als Makel.
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Wir lernen also von klein auf, negative Impulse herunter zu schlucken und ruhig zu bleiben. Uns zu beherrschen. Wir bekommen mit, dass wir weniger liebenswert sind und weniger ernstzunehmend, werden wir doch einmal wütend. Weshalb wir uns schließlich große Mühe geben, unserer auferlegten Rolle zu entsprechen – entgegen der Natur. Vielleicht ist es folglich kein Zufall, dass Frauen in etwa doppelt so oft eine Kieferschiene gegen das Zähneknirschen verpasst bekommen wie Männer. Ja, wirklich. Irgendwann muss die Wut ja raus. Dann eben nachts, wenn niemand zusieht – und wir es noch nicht einmal mehr selbst bemerken.
Dass unterdrückte Wut darüber hinaus einen wesentlichem Beitrag zu psychischen Krankheiten leistet, gilt als bewiesen. Es wird also Zeit für eine Revolution der Wut. Auch, damit wir sie endlich besser kennenlernen und sie zu unser Verbündeten machen können.
Die amerikanische Journalistin und Aktivistin Soraya Chemaly veröffentlichte 2019 ihr Buch „Rage Becomes Her“, in dem sie nahezu liebevoll über die Emotion Wut schreibt, ganz so, als handle es sich dabei um eine lang vermisste Freundin. Und vielleicht ist da sogar was dran. Wie schön, wenn wir uns doch endlich wiederfinden würden.
Zwar ist Wut anstrengend. Und schmerzhaft. Aber sie kann gut tun und Großes bewirken. Antrieb sein. Veränderungen vorantreiben, verbinden und uns dabei helfen, in Kontakt mit der Welt zu bleiben. Sie kann uns sogar beschützen. Chemaly schreibt:
Wo wären wir ohne Wut? Wer wären wir? An welchem Punkt stünden wir? Hätte es die Frauenbewegung ohne Wut gegeben? Black Lives Matter? Fridays for future?
Wir sind längst nicht am Ziel, aber der Fortschritt, der erreicht wurde und die Kämpfe, die geführt werden, haben wir nicht nur engagierten Menschen zu verdanken. Sondern auch Frauen*, die ihre Wut in der Vergangenheit genutzt haben und in der Zukunft nutzen werden, um Banden zu bilden. Denn kollektive Wut ist mächtig.
Und doch: Wütend sein zu können ist bis heute ein Privileg, das sich nicht jede*r leisten kann.
Der Umstand etwa, dass ich in meinem Hausflur wie selbstverständlich wütend und laut werden darf, ohne dass mir etwas passiert, ist – genau wie der Grund dafür – Ausdruck (m)eines (weißen) Privilegs.
„Umso nachdenklicher sollte uns machen, wessen Wut überhört wird, ins Lächerliche gezogen oder aktiv unterdrückt, und wessen Wut Raum und Aufmerksamkeit bekommt“, gibt Teresa Bücker in einer ihrer Kolumnen aus der Reihe „Freie Radikale“ zu bedenken.
„(…) Denn Wut ist eine angemessene Reaktion auf eine existierende Ungerechtigkeit. Wenn also den Menschen ihre Wut abgesprochen wird, die sich gegen ihre Diskriminierung engagieren, richtet sich die Kritik gegen das Anliegen selbst.“ |
Man nennt ein solches psychologisch gewaltvolles Verhalten auch Gaslighting. Hierbei handelt es sich um „eine Taktik, in der die Realität und Wahrnehmung der betroffenen Person angezweifelt und untergraben wird“. Zum Beispiel immer dann, wenn von Rassismus oder Diskriminierung betroffenen Menschen nachgesagt wird, sie seien „einfach zu empfindlich“ und „sollten sich mal nicht so anstellen“.
Als weiterer Misstand muss zudem der Mythos der „Angry Black Women“genannt werden. 2017 schrieb Fabienne Sand in einem Artikel für Thisisjanewayne:
Dieser Stereotyp „ist geprägt von der nordamerikanischen Vorstellung der schwarzen Frau und beschreibt das Auftreten von Woman of Colour als laut und zu stark, stur und geprägt von dem Problem, ein aufbrausendes Naturell in den Griff zu bekommen. Diese ganzen Eigenschaften entsprächen eben nicht dem allgemeinen Frauenbild und seien darum grundsätzlich weniger weiblich, eher maskulin, verstärkt durch muskulösere Körper, laute Organe, das gesamte Auftreten.“
Und weiter:
Egal, wer wir sind, wir sollten unsere Wut ernst nehmen. Ihr lauschen. Abwägen. Und handeln.
Zwar habe ich mir vorgenommen, meinen Nachbar nie wieder anzubrüllen.
Er ist es nämlich gar nicht wert.
Aber wütend bleibe ich solange ich lebe. Für mich und andere.
Versprochen.
“Anger in a woman is akin to madness; it felt like madness inside of me, it looked like madness to others. Maybe if they let us be angry, we wouldn’t go mad.”― Burn It Down: Women Writing about Anger |