Wie viel Zeit haben wir in den vergangenen zwölf Monaten vor einem Bildschirm verbracht, um uns schnell mal aus der Realität zu holen oder die Zeit totzuschlagen? Ob an einem Stück durch oder immer mal zwischendurch: HBO lief, um den Tag herumzukriegen, die Tagesschau, um den Boden nicht zu verlieren und DAZN für ein gründliches Sport-Update. Es ist und bleibt eine stetige Beschäftigung und Berieselung, ein hin und her Gezappe zwischen den beliebtesten online Mediatheken und dem öffentlich rechtlichen Programm. Ob begleitet vom schlechten Gewissen oder nicht: die Flucht in digitale Dimensionen schien lange nicht mehr so bitter nötig.
Ein Widerspruch: Denn während ein Abo bei mehreren Streaming-Anbietern durchaus ein Zeichen von Wohlstand darstellt, ist dieser doch eigentlich das Letzte, was wir mit gesteigerten Fernsehkonsum verbinden. Oder nicht?
DSDS, Dschungelcamp, Taff, Der Bachelor, Alarm für Cobra 11 und GZSZ sind nur ein kleiner Teil von dem, was für viele auf der Roten Liste steht.
Fernsehen mache dumm, ist primitiv und schon gar keine Freizeitbeschäftigung, die die Gehirnteilen herausfordert oder inspiriert. Begriffe wie „Unterschichtenfernsehen“ oder „Assi TV“ reihen sich ein in die Abneigung gegen den Zeitvertreib, den man sich selbst oder seiner Familie keineswegs zuschreiben möchte. Wenn man kann.
Denn die Wahl und die Auseinandersetzung mit eloquenter und vermeintlich nützlicher Freizeit folgt nicht nur einem kapitalistischen Grundprinzip, sondern ist im Kern klassistisch.
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Nachdem die Autorin und Unternehmerin Madeleine Alizadeh aka DariaDaria den Stein vor mehreren Tagen ins Rollen brachte, sammelte sich unter ihrem Post zum Fernsehkonsum ihrer Kindheit und Jugend viel Zuspruch. Es ging um ungewollte Stille und Unterhaltung, Zeitvertreib und Notnagel ihrer Familie, in der die Strukturen eben nicht zuließen, eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu gewährleisten oder kostspielige Hobbies zu finanzieren. Was sie anprangert? Klassismus, also die Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft gegenüber ökonomisch schlechter aufgestellten Menschen. Eine Intersektion, die nicht nur im Kontext „Besitz“, „Gesundheit“ und „Ausbildung“ ein Thema ist. Auch unsere Freizeit lässt sich kategorisieren in solche Aktivitäten, die wir als kultiviert, produktiv und erstrebenswert ansehen oder Tätigkeiten, die wir als faul oder gar intelligenzmindernd einstufen. Ironisch ist hierbei vor allem, wann wir wem welche Beschäftigung zuschreiben, wann sie wirklich ironisch, fast schon cool ist und wann wir hohen Fernsehkonsum für primitiv halten, ihn abwerten oder verurteilen.
Die Liste der Doppelmoral ist lang. Denn nicht alle Handlungen werden für jeden Teil unserer Gesellschaft gleich bewertet. Angefangen bei dem Besitz von bereits getragener Kleidung, dem Urlaub auf „Balkonien“, dem Konsum von Drogen oder Fastfood bis hin zu dem, was wir machen, um uns zu erholen. Ein Einkauf im Sozialkaufhaus, ein Dinner vom Schnellimbiss und der entspannte Abend vor dem Riesenbildschirm. Eine Lebensrealität, die, je nachdem wer sie lebt, für die einen beschämend, für die anderen als Understatement, ja als cool gelten kann. Geld haben oder nicht haben spielt vor allem dann eine Rolle, wenn sich die Besitzer*innen eben proaktiv für etwas entscheiden können – oder eben nicht.
Denken wir wieder über den Fernseher nach, so ist sein Image schlecht. Wer aus vermeintlicher Trägheit die Kinder vor dem Fernseher „parkt“, gilt als schlechtes Elternteil. Wer nichts besseres zu tun hat, als mit den Engsten vor der Glotze zu sitzen, als unkultiviert. Allerdings nur bis zu dem Moment, an dem wir die Privatsender verlassen und in die Mediatheken schauen, die voll sind mit Reportagen, Indie Kino oder Reality TV, Peppa Wutz oder Michel aus Lönneberger. Stolz erzählen, dass man letzte Nacht eine ganze Serie am Stück geschaut hat. Das funktioniert eben in Räumen, in denen es fast ironisch erscheint, dass der Fernseher oder eben Streaming Plattformen auch außerhalb des Lockdown das Hobby der Stunde sind.
Madeleine teilte in ihrem viel geliketen Instagram-Post Momente aus ihrer Kindheit. Solche, in denen der Fernseher eben die Beschäftigung der Wahl war, während die alleinerziehende Mutter noch arbeitete. Dies lässt sich weiterspinnen und übertragen auf entkräftete Eltern und ihre Kinder, die länger vor dem Fernseher sitzen als üblich, sollte der Tag kräftezehrender gewesen sein als sonst. Oder Menschen, die alleine leben und die Hintergrundgeräusche genießen wollen. Oder diejenigen, die auch innerhalb einer Partnerschaft gemeinsame Zeit eben gerne vor der Mattscheibe verbringen. Der Fernseher ist für viele ein mehr oder weniger bewusster Lebensmittelpunkt.
Dass Menschen mit strukturellen oder monetären Privilegien dies verurteilen, ist neben dem Rezitieren von der Schädlichkeit des Konsums häufig nicht mehr als ein Abwärtsvergleich. Auch wenn für viele Menschen die Alternativen vielfältig erscheinen und wir gelernt haben, dass es eben Medien gibt, die im Rang weitaus höher stehen als Spielshows, Serien & Co., dürfen wir nicht vergessen, dass Klassismus als Diskriminierungsform Teil dieses Bewertungssystems ist. Und dass wir zwar nicht ändern können, was die Auswirkungen des Konsums bedeuten, sehr wohl aber, wie wir über ihn denken und sprechen.