Unbequeme Wahrheiten: Was Fernseh-Hass mit Klassismus zu tun hat

28.01.2021 Leben, Gesellschaft, Film

Wie viel Zeit haben wir in den vergangenen zwölf Monaten vor einem Bildschirm verbracht, um uns schnell mal aus der Realität zu holen oder die Zeit totzuschlagen? Ob an einem Stück durch oder immer mal zwischendurch: HBO lief, um den Tag herumzukriegen, die Tagesschau, um den Boden nicht zu verlieren und DAZN für ein gründliches Sport-Update. Es ist und bleibt eine stetige Beschäftigung und Berieselung, ein hin und her Gezappe zwischen den beliebtesten online Mediatheken und dem öffentlich rechtlichen Programm. Ob begleitet vom schlechten Gewissen oder nicht: die Flucht in digitale Dimensionen schien lange nicht mehr so bitter nötig.

Ein Widerspruch: Denn während ein Abo bei mehreren Streaming-Anbietern durchaus ein Zeichen von Wohlstand darstellt, ist dieser doch eigentlich das Letzte, was wir mit gesteigerten Fernsehkonsum verbinden. Oder nicht?

DSDS, Dschungelcamp, Taff, Der Bachelor, Alarm für Cobra 11 und GZSZ sind nur ein kleiner Teil von dem, was für viele auf der Roten Liste steht.

Fernsehen mache dumm, ist primitiv und schon gar keine Freizeitbeschäftigung, die die Gehirnteilen herausfordert oder inspiriert. Begriffe wie „Unterschichtenfernsehen“ oder „Assi TV“ reihen sich ein in die Abneigung gegen den Zeitvertreib, den man sich selbst oder seiner Familie keineswegs zuschreiben möchte. Wenn man kann.

Denn die Wahl und die Auseinandersetzung mit eloquenter und vermeintlich nützlicher Freizeit folgt nicht nur einem kapitalistischen Grundprinzip, sondern ist im Kern klassistisch.

 
 
 
 
 
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Ein Beitrag geteilt von Madeleine Darya Alizadeh (@dariadaria)

„was partly raised by a single mom who worked full time. The TV was something like a parent to me – that’s how much time I spent in front of it. Watching TV is home for me, because it’s what gave me comfort and company when me and my brother where alone at home every afternoon. To some it might seem ridiculous how something like a TV can have emotional value, but for me it actually does. This place now even more feels like home and I can’t wait for many movie nights to come“ – Madeleine Alizadeh

Nachdem die Autorin und Unternehmerin Madeleine Alizadeh aka DariaDaria den Stein vor mehreren Tagen ins Rollen brachte, sammelte sich unter ihrem Post zum Fernsehkonsum ihrer Kindheit und Jugend viel Zuspruch. Es ging um ungewollte Stille und Unterhaltung, Zeitvertreib und Notnagel ihrer Familie, in der die Strukturen eben nicht zuließen, eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung zu gewährleisten oder kostspielige Hobbies zu finanzieren. Was sie anprangert? Klassismus, also die Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft gegenüber ökonomisch schlechter aufgestellten Menschen. Eine Intersektion, die nicht nur im Kontext „Besitz“, „Gesundheit“ und „Ausbildung“ ein Thema ist. Auch unsere Freizeit lässt sich kategorisieren in solche Aktivitäten, die wir als kultiviert, produktiv und erstrebenswert ansehen oder Tätigkeiten, die wir als faul oder gar intelligenzmindernd einstufen. Ironisch ist hierbei vor allem, wann wir wem welche Beschäftigung zuschreiben, wann sie wirklich ironisch, fast schon cool ist und wann wir hohen Fernsehkonsum für primitiv halten, ihn abwerten oder verurteilen.

[typedjs]Das funktioniert eben in Räumen, in denen es fast ironisch erscheint, dass der Fernseher oder eben Streaming Plattformen, auch außerhalb des Lockdown das Hobby der Stunde sind.[/typedjs]

Die Liste der Doppelmoral ist lang. Denn nicht alle Handlungen werden für jeden Teil unserer Gesellschaft gleich bewertet. Angefangen bei dem Besitz von bereits getragener Kleidung, dem Urlaub auf „Balkonien“, dem Konsum von Drogen oder Fastfood bis hin zu dem, was wir machen, um uns zu erholen. Ein Einkauf im Sozialkaufhaus, ein Dinner vom Schnellimbiss und der entspannte Abend vor dem Riesenbildschirm. Eine Lebensrealität, die, je nachdem wer sie lebt, für die einen beschämend, für die anderen als Understatement, ja als cool gelten kann. Geld haben oder nicht haben spielt vor allem dann eine Rolle, wenn sich die Besitzer*innen eben proaktiv für etwas entscheiden können – oder eben nicht.

Denken wir wieder über den Fernseher nach, so ist sein Image schlecht. Wer aus vermeintlicher Trägheit die Kinder vor dem Fernseher „parkt“, gilt als schlechtes Elternteil. Wer nichts besseres zu tun hat, als mit den Engsten vor der Glotze zu sitzen, als unkultiviert. Allerdings nur bis zu dem Moment, an dem wir die Privatsender verlassen und in die Mediatheken schauen, die voll sind mit Reportagen, Indie Kino oder Reality TV, Peppa Wutz oder Michel aus Lönneberger. Stolz erzählen, dass man letzte Nacht eine ganze Serie am Stück geschaut hat. Das funktioniert eben in Räumen, in denen es fast ironisch erscheint, dass der Fernseher oder eben Streaming Plattformen auch außerhalb des Lockdown das Hobby der Stunde sind.

Madeleine teilte in ihrem viel geliketen Instagram-Post Momente aus ihrer Kindheit. Solche, in denen der Fernseher eben die Beschäftigung der Wahl war, während die alleinerziehende Mutter noch arbeitete. Dies lässt sich weiterspinnen und übertragen auf entkräftete Eltern und ihre Kinder, die länger vor dem Fernseher sitzen als üblich, sollte der Tag kräftezehrender gewesen sein als sonst. Oder Menschen, die alleine leben und die Hintergrundgeräusche genießen wollen. Oder diejenigen, die auch innerhalb einer Partnerschaft gemeinsame Zeit eben gerne vor der Mattscheibe verbringen. Der Fernseher ist für viele ein mehr oder weniger bewusster Lebensmittelpunkt.

Dass Menschen mit strukturellen oder monetären Privilegien dies verurteilen, ist neben dem Rezitieren von der Schädlichkeit des Konsums häufig nicht mehr als ein Abwärtsvergleich. Auch wenn für viele Menschen die Alternativen vielfältig erscheinen und wir gelernt haben, dass es eben Medien gibt, die im Rang weitaus höher stehen als Spielshows, Serien & Co., dürfen wir nicht vergessen, dass Klassismus als Diskriminierungsform Teil dieses Bewertungssystems ist. Und dass wir zwar nicht ändern können, was die Auswirkungen des Konsums bedeuten, sehr wohl aber, wie wir über ihn denken und sprechen.

8 Kommentare

  1. henriette.suffragette

    Danke, Danke, Danke kann dem Allem nur nickend zustimmen.
    Die Fernsehverteufelung ist erst in den letzten Jahren so richtig zum Volkssport geworden, oder? Ich kenne jedenfalls nur Leute, die von sich behaupten, als Kind richtig viel Fernsehe geguckt zu haben. Und die wenigstens davon kommen aus ärmeren Verhältnissen. Ich bin selber eher in der Mittelschicht aufgewachsen und bei uns lief die Glotze eigentlich rund um die Uhr. Am schlimmsten finde ich dieses TV Bashing in der Elternbubble. Da gibt es diese Wunderkiste, die die Kleinen ruhig und zufrieden werden lässt, und uns ein bisschen Zeit schenkt, mal etwas in Ruhe und am Stück machen zu können. Und jetzt sollen wir uns dafür so schlecht fühlen, als hätten wir sie in dieser Zeit an einen Wanderzirkus vermietet?
    Die 3. Stufen des Fernsehsnobismus:
    -„Meine Kinder gucken ja kaum Fernsehen“
    -„Ich hab seit Jahren keinen Fernseher mehr“
    -„Ich guck Serien nur in der Orginalsprache“ (gilt natürlich hauptsächlich für englische Produktionen, mit türkisch sprachigen Orginalen lässt sich beispielweise nicht so gut angeben)

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  2. Emea

    Ich habe die Diskussion bei dariadaria verfolgt, und auch wenn ich einigem zustimme, (selbst dreifache Mutter, aufgewachsen in den 90er, sehr beschäftigte Eltern), stört mich doch auch die Glorifizierung dessen, was auch sehr schädlich sein kann.

    Ein hoher Fernsehkonsum muss nicht schädlich sein, aber ein unkontrollierter Fernsehkonsum kann schädlich. Hinzukommt weiterer Medienkonsum, den wir in unserer Kindheit nicht hatten.

    Zu sagen, ich bin so aufgewachsen und schaut was tolles aus mir geworden ist, ist so ziemlich das schwächste Argument überhaupt. Vielleicht ja auch trotz dessen? (Nicht unbedingt auf Fernsehkonsum gerichtet, sondern generell)
    Hoher Fernsehkonsum kann z.B. mit mangelnder Aufmerksamkeit seitens der Eltern eingehen (Betonung liegt auf kann!!) und mir hat dieser definitiv in meiner Kindheit gefehlt.

    Mir fehlt hier ganz klar die Differenzierung.
    Ein gesunder Umgang mit Fernsehen, und Medien generell, ist sehr wichtig und heutzutage garnicht so einfach zu erlernen. Und darüber müssen wir in diesem Kontext auch reden.

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    1. Sanna

      Das finde ich einen sehr guten Punkt, dass sich Medien heute auf wesentlich mehr Geräte und Apps verteilen als in den 90ern. Das hat nochmal einen ganz anderen Einfluss auf Kinder und macht es bestimmt auch anstrengender, für Kinder wie für Eltern. Es wird ja heute auch viel mehr privat von Menschen gesendet, in WhatsApp, TikTok, YouTube usw., und das geschieht doch eher ungefiltert, anders als wenn sich zB eine Redaktion Inhalte für eine Sendung überlegt (auch wenn das nicht heißt dass sie dann gut sein muss). Da prasselt sichert einiges mehr auf einen und die Kleinen ein.

      Als ich den Artikel gerade gelesen habe, dachte ich im ersten Moment nämlich auch: ich hab als klassisches Schlüsselkind total viel Fernsehen gekuckt, oder am Wochenende früh morgens um 6, wenn meine Eltern sich noch nicht aus dem Bett quälen wollten (und das schöne daran war auch immer, auch als Kind mal alleine was zu kucken, nur für sich). Und trotzdem bin ich nicht verblödet. Aber ja, absolut richtig, ein schwaches Argument, das man nicht einfach auf andere übertragen kann.

      Heute als Erwachsene kucke ich immer noch relativ viel Fernsehen. Weil es mir einerseits ein altes Gefühl von Behaglichkeit gibt, und daran sehe ich nichts schlechtes. Aber weil ich es auch liebe, einen Sender einzuschalten, und dann läuft plötzlich ein Film (meistens spät abends!), auf den ich von selbst niemals gekommen wäre, oder den ich wegen irgendwelcher Vorbehalte nicht ausgesucht hätte. Völlig außerhalb irgendwelcher algorithmischer Blasen (gut, die Senderwahl spielt noch rein, aber trotzdem), einfach von anderen eben nicht speziell für mich ausgesucht, aber dennoch empfohlen. Das kann auch horizonterweiternd sein.
      Daher ziehe ich mir den Schuh der Kritik am Fernsehschauen auch schon lange nicht mehr an. Ich kann nämlich auch nicht erkennen, dass Leute, die nicht fernsehen, mir grundsätzliches was voraushaben 🙂

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  3. Leya

    Hallo Fabienne,
    sehr interessanter und wichtiger Artikel. Ich ertappe mich auch manchmal dabei, bestimmte Fernsehsendung nur aus einer negativen Perspektive zu sehen. Aber Geschmack und was uns unterhält kann einfach so unterschiedlich sein.
    Das Phänomen gibt es auch bei Büchern: Romane wie Cecilia Aherns PS: Ich liebe dich werden als Kitsch- oder Frauenromane abgetan. Lese ich aber Autorinnen wie Sally Rooney, Jane Austen, Zadie Smith oder Siri Hustvedt ist es Weltliteratur. Schade, dass das immer bewertet werden muss.

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  4. Titzi

    Danke, dass du mit deinem Artikel deutlich machen willst, dass es in der ganzen Diskussion um den Fernseh- und Medienkonsum darum geht, gesellschaftliche (noch nicht zementierte, aber doch auch schon vorhandene) Schichten zu betonten. Es werden Menschengruppen verurteilt, weil sie etwas machen, um sie in eine Sicht schieben zu können. Hier ganz klar in eine Unterschicht, die als ungebildet gilt. Es geht um die Möglichkeit sich abzugrenzen, von denen da, die ja Fernsehen nur aus diesen und jeden Gründen machen, von denen man selber sich aber abheben und besser stellen will. Für mich ist der Absatz, der sich um die Doppelmoral des ganzen dreht, mit der Wichtigste, da er nochmal aufzeigt, wovor wir uns tatsächlich in Acht nehmen müssen. Darum auf andere zu zeigen und sie als schlechter darzustellen, weil man seine eigene gesellschaftliche Stellung als höherwertig ansieht und das unbedingt herausstreichen muss. Das ist in der Tat eine Diskriminierung und jeder Einzelne ist gefragt, ob er in Zukunft in einer Gesellschaft leben möchte, die wieder nach Klassen unterteilt. Weil die umgekehrte Entwicklung hat dazu geführt, dass es mehr Menschen wesentlich besser geht (in Bezug auf Bildung, Bildungschancen, Arbeit, Versorgung, you name it).
    Dass der ganz persönliche Konsum von Medien sehr unterschiedlich ausfällt und mitunter auch schwankt, ist völlig normal und für die Diskussion irrelevant.
    Danke, dass ihr mit dem Artikel einen anderen Aspekt der Diskriminierungen in unserer gesellschaft behandelt. Nämlich den zwischen den sozial immer weiter abgehängten und denen, die die Armutsdiskussion gerade nur von weitem betrachten.

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  7. Greta

    Sehr spannendes Thema und ein guter Beitrag dazu, Fabienne! Ich erwische mich häufig dabei, dass sich bei mir ein Gefühl von Stolz entwickelt, sobald ich zum Buch statt zur Fernbedienung greife. Dabei lese ich sogar richtig gerne und auch mal Quatsch, es kann mir bei meinem Stolzgefühl also eigentlich nicht um das Erlernen einer neuen Angewohnheit gehen. Lange habe ich das mit der Romantisierung des Mediums Buch verbunden, das nehme ich in Gesprächen mit anderen und vor allem auf Instagram stark wahr (vielleicht auch mal ein Thema für euch? Oder gibt es dazu schon was?). Natürlich sind schöne Bücher eine Freude für das Auge und stellen das Aufregende an einer sich stets weiterbildenden Person in Aussicht. Aber man kann sich auf so verschiedene Art und Weise bilden und zudem ist das übermäßige Kaufen von neuen Büchern letztlich auch einfach eine weitere Form von Konsum. Dass ich zudem vielleicht auch klassistisches Bild vom Fernsehen verinnerlicht habe, kam mir als Idee nie, kann aber gut sein (als Kind habe ich fürs Lesen auf jeden Fall weniger doofe Sprüche bekommen als fürs Fernsehen, haha). Danke für die Anregung!

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