Wie gefährlich Cyber Mobbing ist, zeigt der Tod des Models Kasia Lenhardt. Sie hinterlässt ihren sechsjährigen Sohn. Medienhäuser, aber auch Privatpersonen tragen eine Teilschuld an dieser Tragödie.
„Sei nicht so hart“, sagt meine Freundin am anderen Ende des Telefons, als ich heute Morgen aus dem Fluchen nicht mehr heraus komme. Diese scheiß Menschheit.
Die Nachricht vom Tod der 25-Jährigen hatte mich für einen Moment aus der Bahn geworfen. „Jetzt ist nicht die Zeit für Schuldzuweisungen“, hört man seither an jeder zweiten Ecke des Internes. Zwar weiß ich, was damit gemeint ist. Aber ich will trotzdem rufen: Doch! Gerade jetzt! Denn Kasia Lenhardt war, bevor sie sie sich das Leben nahm, massiv von Cyber Mobbing betroffen. Wie könnten diejenigen, die mitgemacht haben, also ohne Schuld sein?
Die Schundblätter unseres Landes zum Beispiel, die am Elend der anderen verdienen, indem sie auf der einen Seite mit hetzerischen Headlines Rassismen reproduzieren und auf der anderen durch ihre reißerischen Artikel gewissenlos und profitorientiert dazu beitragen, dass Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen – wie Kasia – zu Objekten degradiert werden. Sie bedienen sich einer massiv verletzenden Sprache, ganz öffentlich. Privatmenschen tun das aber auch, gern mithilfe des Internets und oft anonym. Weil es bockt? Weil es so bequem ist? So befreiend? So schnell gemacht? Routine? L’enfer c’est les autres, voilà.
Als Zielscheibe dienen Prominente. Aber auch Bekannte. Freunde. Jugendliche. Und wieder werden Frauen und Mädchen deutlich öfter Opfer von absichtlichem Bedrohen, Belästigen oder Beleidigen. Faktisch hat jede zehnte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr eine Form der Gewalt im Internet erfahren. Wundert das noch jemanden? Auch nein. Willkommen in unserer sexistischen Gesellschaft. Möchte hier jetzt schon wieder jemand behaupten, wir hätten kein strukturelles Problem (mehr)? Gern. Nur werde ich nicht zuhören. Touché.
Es scheint fast zynisch, dass es im Grunde nichts Neues zu berichten gibt. Was ist das hier also? Eine Erinnerung? Weil es ja kein Geheimnis ist, was da jeden Tag passiert. Dass Technik und Gewalt Hand in Hand gehen. Dass in Schulen zu wenig Aufklärung betrieben wird. Dass nicht ausreichend darüber informiert wird, wie man sich gegen diese im Vergleich noch junge und vielfältige Gattung von Gewalt wehren kann und sollte. Auch mithilfe des Rechtsstaats. Dass wir mehr über Depressionen und weitere psychische Erkrankungen sprechen, sie erklären und entstigmatisieren müssen.
Wo hört gemein sein eigentlich auf, wo fängt Mobbing an? Schwer zu beantworten in einer Realität, in der im Sekundentakt bewertet und verurteilt wird, mit nur einem Klick. Durch private Nachrichten, Mails und Kommentare. Es ist normal geworden, dass alle mitreden dürfen. Frust ablassen. Schimpfen. Niedermachen. Ist ja erstmal nicht verboten. Was erlaubt ist, wird natürlich getan. Was verboten ist, aber auch. Also los.
Als wären die Adressierten nicht imstande dazu, mitzulesen. Oder zu fühlen. Sondern leere Hüllen, an denen Gesagtes und Geschriebenes auf magische Weise abprallt. Nur tut es das ja nicht. Es macht sehr wohl etwas mit ihnen. Mit mir. Mit dir. Mit Kasia. Mit den einen mehr, mit anderen weniger. Je nachdem, mit welcher Heftigkeit geurteilt wird. Je nachdem, welche Form die Vorwürfe, Anschuldigungen und Spekulation annehmen. Wie die Gewalt aussieht. Woher oder von wem sie kommt. Und von wie vielen. Je nachdem, wie stabil der Mensch ist, der zur Zielscheibe wird, ganz egal aus welchen Gründen. Je nachdem, wie viel Schutz das private Umfeld bietet. Welche Traumata getriggert werden. Und wie schwer die Last gerade überhaupt wiegt. Die des Lebens, meine ich.
Nichts von alldem können wir als Außenstehende je wissen. Sollte deshalb nicht stets höchste Vorsicht geboten und Rücksichtnahme die Konsequenz sein?
Nö. Woraus sich wohl schließen lässt, dass seelische Verletzungen, die auf Hasskommentare, problematische Bemerkungen, dauerndes Kritisieren, Mobbing, Hate Speech oder öffentliche Hetze folgen, nicht nur in Kauf genommen, sondern beabsichtigt werden. Die Niedertracht der Leute war schon immer unergründlich. Und das Gefühl größer zu sein, indem man andere klein hält, ist längst ein Phänomen der Massen.
„Es gab doch schon immer die, die lautstark mitgemacht haben“, sagt meine Freundin. Ich antworte, dass ich das weiß. Aber die Beobachtung, dass mittlerweile selbst jene brüllen, die ich schätze, macht mich sprachlos. Im wahrsten Sinne.
Zwar handeln sie in ganz anderen Kontexten und aus vermeintlich ehrenwerten Motiven, na klar. Zum Beispiel weil schon wieder zwei weiße Männer ein Buch geschrieben haben. Nächstes Thema also.
Rechtfertigt der Grund die Mittel? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich die Negativität des Netzes mit jedem Tag weniger ertrage. Dass ich müde werde. Dass ich ins Schwanken gerate, obwohl ich das gar nicht will und manchmal nicht mehr zu entscheiden in der Lage bin, wann es wichtig ist, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Und wann man es einfach sein lassen sollte. Vielleicht, weil es andere schon zu genüge getan haben. Oder weil wir alle fehlbar sind.
Oft ist die Sachlage sehr eindeutig. Zum Beispiel im Fall von Body Shaming. Jedenfalls war es noch zu keinem Zeitpunkt in Ordnung, fremde Körper zu bewerten oder zu verurteilen, auch wenn der Körper der Frau noch immer nicht ihr selbst gehört. Sondern vielmehr der Gesellschaft. „Du bist hässlich“ unter das Instagram Bild einer fremden Person zu schreiben, ist genau so boshaft wie die vermeintlich „neutralere“ Feststellung „Sorry, aber das Kleid steht dir nicht“. Solange nicht explizit nach einer Meinung gefragt wird, gibt es keine Legitimation dafür, sie dennoch ständig los zu werden. Dann ist für unseren völlig irrelevanten Gedankenbrei schlicht und ergreifend kein Platz. Er hat nämlich, entgegen diverser Erklärungsversuche, nichts mit konstruktiver Kritik gemein. Sondern ist im besten Fall egal und im schlechtesten verheerend.
„Aber so funktionieren die Sozialen Medien, sie sind doch nicht nur für Applaus gedacht!“, motzt es nun aus manch einer Ecke. Ja, schade eigentlich. Dass da ein Monster erschaffen wurde, weil die Leute ernsthaft denken, Scheiße abladen hätte irgendetwas mit einem notwendigen Diskurs zu tun. Das ist falsch. Richtig ist, dass Austausch wichtig ist, wenn es um wichtige Themen geht. Aber eben nicht immer. Von Support hingegen kann es nicht genug geben. Wer Cyber Mobbing mitkriegt, könnte zum Beispiel versuchen, zu helfen statt nur wegzusehen.
„Moment mal, wer in der Öffentlichkeit steht, muss mit sowas rechnen und umgehen können. Selber Schuld.“ – Ein Satz wie aus dem Bilderbuch der Stumpfsinnigkeit geklaut. Einfach nein. Es ist mir mittlerweile sogar zu blöd, das Warum zu erklären. Kasia Lenhardt. Darum, du Arschloch.
Die Trennung zwischen virtuellem Raum und „echter Welt“ halte ich übrigens für überholt. Es sind echte Menschen, die echte Sachen ins Internet schreiben, was logischerweise in echten Reaktionen echter anderer Menschen und echten Gefühlen mündet. In echten Depressionen, wenn es schlecht läuft. In Selbstmordgedanken.
Ich glaube, das vergessen sogar die sozial Schlauesten gelegentlich.
Vielleicht bereitet mir der mittlerweile überstrapazierte Begriff „Cancel Culture“, wenn er sich denn auf Einzelpersonen statt auf Großkonzerne bezieht, deshalb nach wie vor ein so großes Unbehagen. Ich habe das, was diese Kultur angeblich ausmachen soll, beobachtet, von außen. Gelesen, wie sie entweder verteidigt oder wie deren Existenz dementiert wird. Kapiert, dass vor allem die Rechten es mögen, wenn den Linken das Canceln vorgeworfen wird. Und dass nicht immer Cancel Culture drin ist, wenn Cancel Culture drauf steht. Wie wir es auch nennen wollen – ich frage mich aufrichtig, ob es nicht auch anders geht. Mit der gleichen Bestimmtheit, dem gleichen Effekt, aber weniger gewaltvoll.
Ob tatsächlich mehr als 2000 Kommentartor*innen auf Leandra Medine hätten losgehen müssen, um der Man Repeller-Gründerin nicht nur ihr problematisches Verhalten, sondern ihr gesamtes Sein und Aussehen vorzuhalten. Ob es nicht irgendwann, als die Sache klar war und Medine quasi am Boden, hätte gut sein müssen. Aber das nur als Beispiel. Wie wäre mit einem Mann umgegangen worden, was denkt ihr?
Versteht mich nicht falsch. Ich würde es mich nicht wagen, anderen vorzuschreiben, ihre Wut zu zügeln. Wut ist ein wichtiges Werkzeug. Gegen das Patriarchat zum Beispiel. Ich weine keinem einzigen problematischen Mann, keinem Faschisten, Rassisten oder Nazi hinterher und wann immer die weiße Dominanzkultur wieder auf Durchzug stellt, muss laut dagegen gehalten werden. Auf das, was Oliver Pocher treibt, muss „Outcalling“ folgen, sonst ändert sich rein gar nichts. Aber an besagtem Tag habe ich mir ernsthaft Sorgen gemacht um Medine, die übrigens selbst nicht weiß ist und die zuvor öffentlich über ihre (psychischen) Erkrankungen gesprochen hatte. Weil sie, naja, ein Mensch ist und die Sachlichkeit schnell auf der Strecke blieb. Ich dachte oft: Wieso gehen wir nicht jeden Tag so hart mit jenen ins Gericht, die noch nicht einmal anerkennen, dass sie Scheiße bauen. Die sich darüber im Klaren sind, menschenverachtend zu handeln – und es dennoch tun.
Am Ende verlor zwar niemand sein oder ihr Leben – aber etliche Menschen ihren Job. Auch diese Konsequenz ließ mich ratlos zurück. Was gesagt wurde, war wichtig. Aber war es auch konstruktiv? Hat es die (Medien-)Welt am Ende zu einem besseren Ort gemacht gemacht? Ja und nein? Egal?
Plötzlich ist die Sachlage also gar nicht mehr so eindeutig. Ich zum Beispiel sage: Das war nicht ok. Auch, weil mir dieser Artikel mit dem Titel „What if Instead of Calling People Out, We Called Them In?“ von Prof. Loretta J. Ross nicht mehr aus dem Kopf geht. Viele, die ich schätze, finden aber: „Naja, verdient war es schon“.
Verdient. Unverdient. Wer entscheidet darüber? Ist es ok, jemanden anzugreifen, so lange der Schaden unsichtbar bleibt? Und was passiert an Tagen wie heute? Lernen wir dazu oder machen wir weiter wie gehabt?
Vermutlich beides. Erst das eine, dann das andere. Wie immer, wenn etwas Unbegreifliches geschieht.
Hilfe bei Suizidgedanken
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