Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah haben ein Gespräch ins Rollen gebracht. Es ist unsere Pflicht, es weiterzuführen.
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Vor bald zwei Wochen nahmen sich die Künstlerin Moshtari Hilal und der Essayist Sinthujan Varatharajah die Zeit für eine Analyse, die schon lange überfällig war. Sie bezieht sich unter anderem auf She Said, die Buchhandlung von Emilia von Senger und kritisiert vor allem die mangelnde Transparenz, mit der in Deutschland mit Nazi-Kontinuitäten umgangen wird.
Im Anschluss gab sich eine TAZ-Redakteurin irritiert über die Argumentation. Nach dem Motto „es gäbe Wichtigeres zu tun“, solle man sich lieber richtigen Nazis wie Beatrix von Storch und Co. widmen. Unter dem Statement von Emilias Stellungnahme brannte derweil mehrere Tage die Kommentarspalte. Was vergessen wurde: Von Senger und so viele andere, ihr Geld und ihr Schweigen sind am Ende viele einzelne Symptome einer gescheiterten Erinnerungskultur, die weder in der Lage war, Traumata zu bearbeiten, noch Machthierarchien zu lokalisieren oder Kontinuitäten sichtbar zu machen.
Die Kritik in Vortragsform von Hilal und Varatharajah hat offengelegt, wozu Menschen mit deutschen Vorfahren, mit sogenanntem Nazihintergrund, in der Vergangenheit nicht in der Lage waren und war gleichzeitig beispielhaft dafür, welche Personen die Arbeit machen, wenn es um Analyse und Kritik an einer rassistischen Gesellschaftsstruktur geht. Auch wenn die Kontinuität verschiedener Kapitalformen kritisiert wurde, lässt sich die Analyse auch auf die unter uns übertragen, die ohne großes Erbe oder Siegelring durch die Welt wandern. Die wenigsten sind zur Auseinandersetzung oder zur Verantwortung, die das Erbe ihrer Familien mit sich bringt, gezwungen. Weil niemand fragt. Und weil niemand gelernt hat, danach zu fragen.
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Der Fall She Said hat aufgezeigt, wie beängstigend es sein kann, wenn Menschen Transparenz und Rechenschaft einfordern, wenn du dir selbst keine direkte Schuld zuweisen kannst. Auch wenn die wenigsten auf ein mehrstelliges Erbe zurückschauen oder einen Platz im öffentlichen Raum einnehmen, so ist es ein Leichtes herauszufinden, ob monetäre Kontinuitäten der Familiengeschichte bis ins Jetzt fortbestehen konnten. Diese Auseinandersetzung geht über schlichte Privilegien hinaus. Sie meint mehr als Eingeständnisse und Schuldgefühle. Sie meint Verantwortung einer jeden Person, die versäumt hat, mit ihren Großeltern noch rechtzeitig ein Gespräch zu führen und die richtigen Fragen zu stellen. Gespräche über Schuld und Sühne und vielleicht ein bisschen Hoffnung. Weil man meinen könnte, dass es die familiären Räume sind, in denen diese Unterhaltungen leicht fallen sollten.
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Als ich meine Uroma fragte, wie ihr es in den Dreißigern erging, redete sie davon, dass Hitler ihren Freundinnen und ihr etwas Gutes getan hätte. Sie redete vom Bund Deutscher Mädchen und unbeschwerten Zeiten auf dem Schulhof. So alt das Gespräch ist, so sehr erinnert es mich daran, dass eben genau eine Hälfte meiner Familie nie gelernt hat, sich richtig zu erinnern, nie gelernt hat, sich in einem Rahmen auszutauschen, den es braucht, um Geschehenes aufzuarbeiten. Dabei bleibt es für mich zweitrangig, welche Rolle genau eingenommen wurde. Zweitrangig, dass keiner meiner Familienmitglieder Teil einer ausführenden Gewalt war. Unterschiede sind mir bewusst. Mit dem Gespräch mit meiner Familie, mit der Erkenntnis, dass eine geliebte Frau auch kurz vor ihrem Tod weder kritisch noch wohlwollend über Adolf Hitler sprach, muss am Ende jedoch ich weiterleben.
Die Kritik an She Said hat mich betroffen gemacht und mitgenommen. Ich war bockig und enttäuscht, weil ich mich freuen wollte, dass es einen Ort wie diesen gibt. Weil ich lieber über gute Absichten und schöne Wandfarben reden wollte als über Verantwortung. Es hat mich mitgenommen, weil die Kritik mich ins Mark trifft. Weil sie eben nicht nur diejenigen meint, die innerhalb der Machtstrukturen weiterhin profitieren, sondern auch solche wie mich, die Verantwortung tragen, die nicht an Geld oder Einfluss gebunden ist, und sich gleichzeitig nie eindeutig mit dem Deutschsein identifizieren werden.
Emilia wurde für ihre Reaktion auf die Kritik gelobt. Für ein Statement, von dem wir wissen sollten, dass es empowernd sein kann, sich vielleicht mutig anfühlt, aber eigentlich selbstverständlich sein muss. Es könnte beispielhaft für den korrekten Umgang mit dieser Verantwortung sein. Es könnte den Anfang machen für diejenigen, die mit einer ähnlichen Geschichte oder Verwandtschaft in Argentinien hinterm Berg halten.
Es sollte uns lehren, dass es gerade in einer linken weißen Blase unfassbar schwer ist, diese Kontinuität zum Thema zu machen, ohne auf die vermeintlich größeren Probleme zu deuten und von kleineren, aber genau so wesentlichen Kämpfen abzulenken. Was viele als Problem einer progressiven Linken beschreiben, sehe ich in diesem Fall als Stärke. Als Fähigkeit, Kapitalismuskritik, Milieuschutz, Erinnerungskultur und einen Nazihintergrund in einem Gespräch zusammenzubringen. Und all das, während wir gegen noch lebende Nazis kämpfen.