Triggerwarnung: Dieser Text thematisiert psychische und physische Gewalt an Frauen. Vor einigen Jahren, als ich auf einer Veranstaltung anlässlich des Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen gesprochen hatte, kam eine ältere Dame auf mich zu. Wir wechselten ein paar Worte über die Veranstaltung, dann sah sie mich scharf an: „Es ist gut, dass es MeToo gibt und dass ihr jungen Feministinnen so viel darüber sprecht“, sagte sie, „aber worüber ihr immer noch zu wenig sprecht, ist Partnerschaftsgewalt. Darüber, dass nicht nur die Weinsteins dieser Welt das Problem sind, sondern dass es für viele Frauen der eigene Partner oder Ex-Partner ist.“
Misshandelt und missbraucht
An diese Frau und ihre Worte musste ich in den letzten Wochen oft denken, als mehrere prominente Männer von Frauen beschuldigt wurden, ihnen Gewalt angetan und sie missbraucht zu haben. Ob Armie Hammer, Shia LaBeouf oder Marilyn Manson: Sie alle haben – sexuelle – Beziehungen ausgenutzt, um ihre Partnerinnen zu erniedrigen und zu misshandeln. Die Sängerin und Schauspielerin FKA twigs, die im Dezember 2020 bei einem Gericht in Los Angeles Klage gegen ihren Ex-Partner Shia LaBeouf eingereicht hat, sagte in einem Interview für den Podcast Grounded with Louis Theroux, dass sie über ihre Erfahrungen mit Partnerschaftsgewalt spreche, „weil es etwas in der Gesellschaft ist, das ein wirklich großes Problem darstellt und es wirklich häufig vorkommt, aber aus irgendeinem Grund reden wir nicht darüber.“
Sie hat Recht: Wir reden nicht darüber, auch in Deutschland nicht. Oder zumindest nicht genug. Dabei wird hierzulande jede vierte Frau mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexualisierter Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner. Etwa jeden zweiten oder dritten Tag stirbt eine Frau durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. In Krisensituationen, wie momentan in einer globalen Pandemie, steigt das Risiko für häusliche Gewalt und Partnerschaftsgewalt. Als Ende 2017 mehrere Frauen den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein beschuldigten, sie belästigt und missbraucht zu haben, als MeToo daraufhin in die Öffentlichkeit explodierte, standen Macht und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz im Mittelpunkt. Es ging darum, wie Frauen am Arbeitsplatz behandelt werden, was sie sich im Namen ihrer Karriere von Männern gefallen lassen müssen, von anzüglichen Sprüchen bis hin zu sexueller Belästigung.
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Warum geht sie nicht einfach?
Dieser Fokus auf das Arbeitsumfeld und berufliche Interaktionen ergab sich aus der Natur der Anschuldigungen, und er war nützlich, denn das Arbeitsumfeld ist reguliert – in Deutschland zum Beispiel ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gesetzlich verboten. Anders sieht es im privaten Umfeld aus. Der*die Partner*in ist kein*e Arbeitskolleg*in, sondern der Mensch, mit dem man das Leben teilt, den man liebt, mit dem man eventuell eine Familie gegründet hat. Es geht um die eigene Intimsphäre, das eigene Zuhause. Dank MeToo wird Frauen, die über ihre Erfahrungen mit Belästigung und sexualisierter Gewalt am Arbeitsplatz geschwiegen haben, die sich „nicht gewehrt“ haben, mittlerweile mehr Verständnis entgegengebracht. Weil es eben nicht einfach ist, sich zu wehren, wenn es ein Machtgefälle gibt und die betroffene Frau berufliche Nachteile fürchten muss, wenn sie den Mund aufmacht.
Frauen mit einem gewalttätigen Partner hingegen wird dieses Verständnis oft verwehrt. Weil sie doch angeblich keine guten Gründe haben, zu bleiben. FKA twigs wehrt sich gegen diese Versuche der Täter-Opfer-Umkehr: „Die Leute fragen das Opfer oder die Überlebenden oft: ‚Warum bist du nicht gegangen?‘ Anstatt den Täter zu fragen: ‚Warum hältst du jemanden durch missbräuchliches Verhalten als Geisel?‘“ Viele würden sagen, es könne ja nicht so schlimm gewesen sein, sonst hätte sie ihn viel früher verlassen, aber: „Gerade weil es so schlimm war, konnte ich nicht gehen.‘“
An der Oberfläche
Der MeToo-Bewegung wird seit den ersten Vorwürfen gegen Harvey Weinstein vorgeworfen, zu weit zu gehen. Schnell war von einer „Hexenjagd“ die Rede, davon, dass man(n) ja nun überhaupt nichts mehr tun dürfe, dass plötzlich jeder schlechte Sex eine Vergewaltigung sei. Tenor: Wo soll das alles nur enden? Dabei zeigt sich jetzt, wie sehr MeToo bisher nur an der Oberfläche gekratzt hat. So war Kristen Roupenians Ende 2017 im New Yorker veröffentlichte Kurzgeschichte über einen verunglückten One-Night-Stand nicht nur deshalb ein viraler Hit, weil sie gut geschrieben war – sondern weil sie an etwas tiefliegendes, essentielles rührte. Es ging um Macht und um asymmetrische Kommunikation, um das Geschlechterverhältnis und darum, wie schwierig es für vordergründig freie und aufgeklärte moderne Frauen immer noch ist, ihre Sexualität selbstbestimmt auszuleben. Eben weil Sexualität nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern in einer Gesellschaft, die von bestimmten Machtstrukturen geprägt ist. Weil das häufig zu Widersprüchen zwischen der gefühlten individuellen Freiheit und der gesellschaftlich bedingten Unfreiheit führt.
Die Wahrheit ist: MeToo ist noch nicht weit genug gegangen – und vielleicht wird es nie weit genug gehen können. Die prominenten Fälle Marilyn Manson, Shia LaBeouf und Armie Hammer zeigen, wie allumfassend das Thema Macht und Missbrauch ist, wie divers die Formen von Gewalt gegen Frauen – Gewalt bedeutet nicht immer automatisch Schläge –, wie viele Frauen immer noch schweigen, weil sie nicht um ihre Karriere, sondern sogar um ihr Leben fürchten müssen. Und weil sie damit rechnen müssen, dass im Zweifelsfall ihnen die Schuld gegeben wird, dass man sie fragt: Warum gehst du nicht einfach?
Die Frau auf der Veranstaltung hatte Recht: Darüber müssen wir reden. Noch viel viel mehr als bisher.