2012 bin ich nach Berlin gezogen. Damals war ich zwanzig, notorisch knapp bei Kasse und irgendwo zwischen Neugier, Lethargie und Schock über das Neue gefangen. Alle meine Erfahrungen, Irrungen, Wirrungen und Anstrengungen wie Lustmomente des Erwachsenwerdens, waren seitdem eng an meine Wohnsituation gekettet, ob es Freund*innen und Familie hören wollten oder nicht, irgendwas war immer im Argen, besonders schön oder nervig. Langweilig war es jedenfalls nie. 8,5 Jahre, 4,5 Umzüge, drei Stadtteile und jede Menge Nerven später kann ich 50 qm mein Eigen nennen. Ein Schritt, der nötiger und wichtiger war, als ich je gedacht hätte.
Ich war lange überfällig
In einer Wohngemeinschaft zu leben war nie meine erste Wahl. Mich faszinierten die Aufopferungsbereitschaft und der Enthusiasmus, den mein Umfeld im Kontext „Zusammenleben“ an den Tag legte. Von Projekten war die Rede, Hausparties oder einem Tatort-Marathon. Schon meine erste WG-Erfahrung war eine Zusammenkunft aus der Hölle, auf die ich noch heute hätte verzichten können. Auch wenn es nach dem Umzug von Kreuzberg nach Neukölln nur besser wurde, wollte sich eine Ruhe nicht einstellen. Kompromissbereitschaft, Akzeptanz, Toleranz und Fürsorge? Charaktereigenschaften, die mir überall entsprechen zu scheinen, wenn man mal von den eigenen vier Wänden absieht. Jahrelang habe ich Finger gezeigt und Panik bekommen, wenn sich bestimmte Namen auf meinem Handybildschirm zeigten. Noch heute triggern mich wenige Dinge mehr als Konfrontationen zum Thema Wohnung in einem WhatsApp-Chat.
Ein Zusammenleben mit Menschen, die man lieb hat und wertschätzt, bleibt für mich bis heute eine der herausforderndsten Aufgaben in meinem Leben. Weder mir noch meinen Freundinnen konnte ich gerecht werden. In einer Lebensphase, in der es nicht mehr möglich war, Blumenarrangements oder Raumdüfte, die meinem Geschmack nicht entsprachen, zu akzeptieren, war ich rechthaberisch und eigensinnig. Es dämmerte mir zwar schon lange, doch an der Illusion und den vielseitigen Vorbildern einer krumpeligen und kultivierten Erwachsenen-WG wollte ich trotzdem festhalten.
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Ich träumte von langen Gesprächen auf dem Balkon und dem romantischen Aufteilen einer Bio-Kiste. In der Realität gab es Streit um eingestaubte Regalmeter, geliehene Sandalen und unbezahlte Rechnungen. Geteiltes Leid, geteilte Schuld. Fast so, als hätten sich alle gleichermaßen im Wege gestanden. Auch in der dritten WG sollte sich meine Einstellung zum Zusammenleben nicht ändern. Vielmehr noch verschärfen, wegen des Geldes und des Alters und des Abstands und der Nähe. „Es liegt an mir, nicht an dir“ war die Erkenntnis, mit der ich schmerzlich feststellen musste, dass meine Eigensinnigkeit, Unabhängigkeit, Schwermütigkeit und vieles mehr dazu beigetragen hatten, es Menschen in meinem nächsten Umfeld immer wieder zu erschweren, in meiner Nähe zu sein. Ich war lange überfällig, vielleicht aber auch nie empfänglich.
Freiheit gleich Verantwortung
Große Angst machte mir zu Anfang vor allem die finanzielle Verantwortung. Insbesondere weil ich heute weiß, dass die Entscheidung zum gemeinschaftlichen Wohnen mit Freundinnen tendenziell eher aus Geldknappheit als aus der Überzeugung vom WG-Konzept an sich entstand, musste ich lange reflektieren, ob ich mir die alleinige Verantwortung für einen Wohnraum finanziell zutrauen kann. Finanzielle Ängste begleiten mich schon immer und prägten meinen Alltag schon vor dem Auszug von zu Hause. Vor allem die bislang irrationale Angst vor Problemen mit Behörden, Schulden oder nicht bezahlbaren Rechnungen schlich sich ein, als ich im Begriff war, mir den Wohnungsmarkt genauer anzuschauen. Hinzu kam die frische Selbstständigkeit, die mir seit meines Bachelorabschlusses 2019 ein nur mehr oder weniger festes Einkommen bescherte, welches auch im Coronajahr nicht wie eine stabile Konstante erschien. Ich habe lange gebraucht, um die finale Entscheidung zu treffen und mich von besagten Ängsten zu befreien. Der Gedanke, sich in Zukunft alleine um Mieter*innenkonto, Versicherungen, Stromlieferant*innen und vieles mehr zu kümmern, war unmittelbar vor dem Umzug besonders stark von Überforderung und Sorge geprägt, auch wenn sich diese Gedanken wie ein Selbstläufer eingependelt haben.
Was für viele so selbstverständlich ist, löste für mich, aufgewachsen in einem Haushalt, in dem finanzielle Probleme ein Thema waren, immer wieder viele Trigger aus. Das eigene, unsichere Gehalt als alleinige Finanzierung eines Wohnraums zu verstehen, schockiert mich noch immer kurz, wenn ich daran denke. Die Entscheidungsgewalt, die mir selbst aber genau diese Autonomie und Eigenverantwortlichkeit beschert, möchte ich gegen nichts auf der Welt eintauschen. Den eigenen Wohnraum zu gestalten, hat für mich eine andere Qualität, seit ich nicht mehr notgedrungen eine neue Packung Kerzen kaufe, um mein kleines WG Zimmer irgendwie zu retten. Die Motivation zur Gestaltung, aber auch Investition in Möbelstücke, von denen ich weiß, sie für einen längeren Zeitraum benutzen zu können, weil ich nicht schon den nächsten Schritt plane, sondern es genieße, sesshaft zu werden, ist einfach eine andere.
Sich aushalten lernen
Es ist so leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, wenn man sich Klo, Spüle und Kühlschrank teilt. Mit Sicherheit verschiebt sich hier das Gefühl von Verpflichtung und Verantwortung schnell, wenn man es schafft, sich selbst davon zu überzeugen, dass man nicht für das Chaos verantwortlich ist. Über Jahre habe ich mich für eine durchaus akkurate und ordentliche Person gehalten − zumindest was die geteilten Räume betrifft. Erst heute weiß ich, dass ich Ordnung und Sauberkeit zwar sehr schätze, alles auf dem Weg dorthin für mein Naturell aber durchaus anstrengend bleibt. Wer kennt die Tupperware im Kühlschrank, die man erst vergisst und dann mit Absicht nicht anrührt, weil man sich inzwischen vor dem Inhalt fürchtet? In den eigenen vier Wänden gibt es weder Personen, die sie übereifrig wegräumen noch jemanden, vor dem man sich für seinen eigenen Mess schämt. Erst hier habe ich realisiert, dass alle meine Mitbewohnerinnen es Tag für Tag mindestens genau so schwer mit mir selbst hatten. Diese Art von Selbsterfahrung lässt sich hierbei auf so vieles übertragen. Auf einsame Tage im Lockdown oder in der Quarantäne. Oder zu verstehen, dass man sich jetzt zu Hause nur noch auf sich selbst verlassen kann, vor allem als Person mit psychisch instabilen Phasen. Lange Zeit hat es mir große Angst gemacht, nicht an der Tür nebenan aufgefangen zu werden, wenn man sich selbst nicht mehr halten kann.
Auf der anderen Seite ist auch jegliche Scham vor extremen Gefühlsausbrüchen wie vom Erdboden verschluckt. Mit mir selbst umzugehen wäre in einer Wohngemeinschaft für immer eine Verhandlungssache geblieben. Sich erklären müssen und wollen, sich für Streitereien oder den ausbleibenden Partner rechtfertigen oder höfliche und tatsächlich interessierte Nachfragen aushalten, obwohl man selbst noch keine Antwort gefunden hat. Heute kann ich guten Gewissens für ein, zwei Tage verschwinden und mich bewusst für eine Isolation entscheiden, in der ich keinen Sprint über den Flur hinlegen muss, um auf dem Gang zum Klo nicht entdeckt zu werden. Ist das normal oder ein Gefühl, bei dem man eigentlich die Notbremse ziehen müsste?
Der eignen Wahrheit ins Auge schauen
Die Wohnungsfrage war für mich seit jeher ein extrem emotionales Auf und Ab. Was für viele, für die der alleinige Wohnraum selbstverständlich ist, irritierend bleiben kann, war für mich vielleicht der größte Zugewinn seit dem Auszug aus meinem Kinderzimmer. Ob ich die letzten zwölf Monate so gut überstanden hätte, hätte ich mit allen persönlichen und beruflichen Überforderungen Rücksicht auf Dritte nehmen müssen, wage ich heute zu bezweifeln. Dafür verstehe ich mich selbst als zu kompliziert und zu anstrengend. Was mir aber geholfen hätte, schon früher zu dieser Erkenntnis zu gelangen, wäre die Auseinandersetzung mit der eigenen Entscheidungsgewalt und der Relevanz dieses Bedürfnisses. Sich ernst zu nehmen und die Zeit einzuräumen, um diese Gedanken mit sich zu verhandeln, ohne erst einmal jemanden um Rat zu fragen.
Zu realisieren, welches Thema gerade überproportional viel Raum im eigenen Leben einnimmt, und zwar im Kontext von Beschwerden statt Lobeshymnen. Sich selbst als autonomes und eigenverantwortlichen Subjekt zu verstehen und aufhören sich ausschließlich Dinge zuzuschreiben, von denen man glaubt, sie über sich zu wissen. Nur so hatte ich Raum und Energie an der Tragweite meiner Entscheidungen zu wachsen, die eigenen Ängste zu überwinden und zum Schluss in einem Zuhause anzukommen, das ganz andere Qualitäten aufweist als das Elternhaus.
Bald ist der Umzug ein Jahr her und mich jucken noch immer Projekte in den Fingern, die beim Einzug dick und fett auf der Agenda standen. Jetzt sitze ich im einzigen richtig fertigen Raum der Wohnung und fühle mich trotzdem pudelwohl. Wahrscheinlich nur, weil ich das außer mir selbst keinem anderen schmackhaft machen muss.