Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: “Grauzonen gibt es nicht”

Die österreichische Journalistin Sara Hassan hat einen Guide mitgeschrieben, der Betroffenen und Zeug*innen von sexueller Belästigung (am Arbeitsplatz) dabei helfen soll, zu erkennen, wann Grenzen überschritten werden. Hier erklärt sie, worauf es ankommt. 

Sexuelle Belästigung (am Arbeitsplatz): Ein Ratgeber zur Erkennung, wann Grenzen überschritten werden

Sexuelle Belästigung findet überall in unserer Gesellschaft statt: an öffentlichen Plätzen, im Privatleben und am Arbeitsplatz. #Metoo hat vor ein paar Jahren viel in Bewegung gesetzt. Auch in der Arbeitswelt sind wichtige Prozesse in Gang gesetzt worden – und gleichzeitig noch viel zu wenig. Wo fängt sexuelle Belästigung an? Was hat das Ganze mit Machtmissbrauch zu tun? Und, wie können Nicht-Betroffene eingreifen? Über all diese Fragen hat die österreichische Journalistin, Podcasterin und ehemalige Mitarbeiterin im europäischen Parlament Sara Hassan gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Juliette Sanchez-Lambert einen Guide geschrieben. Dieser soll Betroffenen und Zeug*innen dabei helfen, zu erkennen und zu formulieren, wann Grenzen überschritten werden. Die These ist gleichzeitig der Titel: “Grauzonen gibt es nicht”, denn mit den richtigen Analysetools werden sie als das erkennbar, was sie tatsächlich sind: Grenzüberschreitungen.

“Grauzonen gibt es nicht”: Ein System zur Erkennung von Grenzüberschreitungen

Dafür haben sie ein sogenanntes Red Flag System entwickelt. In ihrem Guide, der im Internet auch zum kostenlosen Download zur Verfügung steht, erläutern die beiden dieses Warnsystem zur Erkennung von Belästigungen, denn diese haben System. Die Red Flags dienen als Analysetools, damit Betroffene ihre eigenen Grenzen erkennen und deren Überschreitung benennen, problematische Verhaltensweisen identifizieren, Umgebungen erkennen, die Machtmissbrauch fördern, und ihre Gefühle in diesen Situationen richtig lesen können. VOGUE hat mit Sara Hassan über den Mythos der Grauzonen, Machtmissbrauch am Arbeitsplatz und die Werkzeuge für einen wirklichen Systemwandel gesprochen.

Sara Hassan über sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch am Arbeitsplatz

Sie kritisieren, dass sexuelle Belästigung oft mit der klassischen “Hand auf dem Hintern” bebildert wird und so ein sehr enges Bild davon entsteht, was sexuelle Belästigung ist, obwohl diese eigentlich viel facettenreicher ist. Was ist sexuelle Belästigung aus Ihrer Sicht?

Das große Missverständnis ist, dass es sich bei Belästigung um eine einzige Handlung oder einen einzigen Kommentar handeln würde, eine Grenzüberschreitung im Vakuum. Was davor und danach passiert, wird selten in den Blick genommen. Sexuelle Belästigung baut sich aber oft langsam auf. Und es gibt sehr viele große und kleine Schrauben, die das System ausmachen, unterschiedliche Eskalationsstufen.

© Christian Lendl

Was steht am Anfang dieser Eskalationsstufen?

Ich würde sagen, es beginnt in dem Moment, in dem ein Machtverhältnis hergestellt ist, das missbraucht werden kann. Das kann in allen möglichen Ausprägungen auftreten: Im Freund*innenkreis, am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung. Überall dort, wo wir sozial interagieren.

Und was passiert dann?

Zunächst findet eine verhältnismäßig geringe Grenzüberschreitung statt, die den Boden für krassere Übertritte bereitet. Es kann mit einer Situation beginnen, in der plötzlich eine Schuld da ist, mit einer – wenn man es isoliert betrachten würde – “netten” Handlung. Die Person hat dir geholfen, du stehst in ihrer Schuld. 

Irgendwann beginnt diese Person – auf den Arbeitskontext gemünzt – einen zunächst noch professionellen Umgang mehr und mehr privat werden zu lassen. Das kannst du der Person nicht abschlagen, weil die Schuld ja schon da ist. In dem Moment, wo die Ebene schief geworden ist, ist es aber schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Warum sprechen wir dabei so oft von “Grauzonen”?

Ich glaube, das liegt daran, dass es sehr unangenehm ist, sich einzugestehen, dass viele dieser Dinge gar nicht so grau sind. Wenn man nicht nur die Betrachtungsweise der Person in der Machtposition zulässt, sondern auch die der Betroffenen, sind solche Dinge eigentlich relativ schnell klar als Grenzüberschreitung einordbar. Uns wird aber abtrainiert, es als das anzuerkennen, was es ist: eben eine Grenzüberschreitung. Es ist unangenehm, sich einzugestehen, dass Macht überall in unseren sozialen Beziehungen wirksam wird und dass diese Macht nicht nur potenziell, sondern auch effektiv missbraucht wird. Außerdem spielt das Narrativ der Grauzonen Täter*innen in die Hände. Unter dem Vorwand, es gäbe Grauzonen, kann man sich sehr viel erlauben. Mit unserem Buch wollen wir ein Bewusstsein dafür herstellen, dass es diese Muster gibt und dass es nicht nur um eine einzige, individuelle Handlung geht. Im Gegenteil: Es ist etwas Strukturelles, Alltägliches.

[typedjs]In dem Moment, wo die Ebene schief geworden ist, ist es schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen.[/typedjs]

Etwas, das uns häufig am Arbeitsplatz begegnet?

Ja, denn es geht nicht nur um sexuelle Belästigung, es geht um Machtmissbrauch. Dieser funktioniert über Kontrolle, Manipulation und Ausbeutung. Diese Systeme sind ineinander verzahnt und funktionieren nur miteinander. Wenn zum Beispiel die Grenzen des Arbeitstages immer weiter aufgeweicht werden, so dass man jederzeit erreichbar sein muss, dass erwartet wird, dass man sich auch spät in der Nacht und über einen privaten Messenger zurückmeldet, dann werden Grenzüberschreitungen leicht.

VOGUE COMMUNITY

– Dieser Text von Helen Hahne wurde zuerst bei Vogue Germany veröffentlicht. Dort könnt ihr den Beitrag weiterlesen  –

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