Warum wir uns ältere Menschen öfter als Vorbild nehmen sollten

Vor kurzem hörte ich ein Podcast-Interview mit Ann Goldstein, die Elena Ferrantes Bücher – darunter auch die phänomenal erfolgreiche „neapolitanische Saga“ – aus dem Italienischen ins Englische übersetzt hat. Goldstein fasziniert mich, nicht nur, weil ich großen Respekt vor Übersetzer*innen habe, sondern auch, weil, und das ist erstaunlich, Goldstein erst mit Ende 30 begann, Italienisch zu lernen. Die heute 71-Jährige, die auf eine lange Karriere als Redakteurin und später Leiterin des copy department beim Magazin The New Yorker zurückblickt, fand sich Ende der 1980er mit ein paar Kolleg*innen zusammen, um anhand von Dantes Werken gemeinsam Italienisch zu lernen. Anfang der 1990er veröffentlichte Goldstein ihre erste Übersetzung aus dem Italienischen, einen Essay von Aldo Buzzi. 2004 kam dann die Anfrage des Verlags Europa Edition, ob Goldstein Interesse daran hätte, einen Ausschnitt aus Tage des Verlassenwerdens, dem Buch einer gewissen (damals noch nicht weltweit gefeierten) Elena Ferrante zu übersetzen. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte: Goldstein hat bis heute nicht nur Ferrante ins Englische übertragen, sondern auch Werke von Primo Levi, Elsa Morante und Giacomo Leopardi.

 
 
 
 
 
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Ein Beitrag geteilt von THIS IS JANE WAYNE (@thisisjanewayne)

Als die diesjährige Forbes „30 under 30“-Liste veröffentlicht wurde, klickte ich mich etwas beklommen durch die verschiedenen Gesichter. Natürlich, die Menschen, die es auf die Liste geschafft haben, sind inspirierende Vorbilder und haben Großartiges geleistet. Gleichzeitig hat die Pandemie gerade junge Menschen hart getroffen: Seit über einem Jahr findet ihr Unterricht oder Studium fast nur noch zu Hause statt, sind die Zukunftsaussichten für Berufseinsteiger*innen schlecht, ist unklar, welche Langzeitfolgen die Pandemie für ihre Psyche und ihre beruflichen Möglichkeiten hat. Ihnen wurde möglicherweise ein wichtiges, entscheidendes Jahr ihres Lebens geklaut, ein Jahr, das sie nie wieder zurückbekommen, das ihnen fehlt. Und nun ist hier also eine Liste mit lauter jungen Überflieger*innen, die zu sagen scheint: Schaut her, diese jungen Menschen haben es geschafft – und was hast du bisher geleistet? Hop hop, am besten gründest du dein eigenes Unternehmen sofort, damit du es vielleicht auch auf die Liste schaffst!

 

 
 
 
 
 
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Ein Beitrag geteilt von The Last Bohemians (@thelastbohemianspod)

Verfallsprozess ab Mitte 30

Je älter ich werde, desto mehr bewundere ich Menschen, die sich nicht davon abhalten lassen, die Dinge zu tun, die sie tun wollen, unabhängig von ihrem Alter. Die in ihren 40ern eine neue Sprache lernen, in ihren 50ern ihre große Liebe treffen, in ihren 60ern in eine neue Stadt ziehen, in ihren 70ern anfangen, zum ersten Mal in ihrem Leben Sport zu treiben, sich in ihren 80ern einen Laptop zulegen und erkunden, wie man Google benutzt. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Artikel, in dem es um einen über 80-jährigen Mann ging, der am Erasmus-Programm teilnahm und mehrere Monate im Ausland studierte. Es ist nicht so, dass ich keine Erfolgsgeschichten von jungen Menschen sehen oder lesen will. Aber ich wünsche mir, dass wir uns von der Vorstellung lösen, dass man bestimmte Dinge nur tun kann oder sollte, wenn man jung ist. Und dass es eine Art Verfallsdatum gibt dafür, Neues lernen und ausprobieren zu können. Zumal gerade Frauen immer und immer wieder vermittelt wird, dass ihr Verfallsprozess spätestens mit Mitte 30 einsetzt.

Glücklicherweise gibt es mittlerweile Podcasts wie The Last Bohemians, der ältere, inspirierende Ladies in Kunst und Kultur vorstellt, oder, brandneu, 70 Over 70, wo Menschen über 70 interviewt werden. In einem Interview mit der New York Times sagt Max Linsky, Gastgeber von 70 Over 70, er hoffe, dass die Zuhörer*innen sich öfter und intensiver mit den älteren Menschen in ihrem Leben unterhalten würden. Und, ebenfalls in der New York Times, erzählen drei Frauen davon, wie sie in ihren 50ern und 70ern ihrem Leben eine neue Richtung gaben, noch einmal die Schulbank drückten oder sich endlich einen Traum erfüllten. Eine der Frauen, die 53-jährige Abby McEnamy, erklärt:

[typedjs]The term ‚late bloomer‘ makes it seem like there’s a prescribed age where you should have stuff. I don’t subscribe to that. Why should society get to say you’re late for something?[/typedjs]

Ich kann mir Zeit lassen

Ja, warum eigentlich? Jeder Mensch hat sein eigenes Tempo. Immer, wenn ich mich darüber ärgere, dass ich ein bestimmtes Ziel noch nicht erreicht habe, obwohl ich schon 33 Jahre alt bin, und immer, wenn mich das Gefühl überkommt, keine Zeit mehr zu haben, denke ich an Ann Goldstein. Wenn sie es geschafft hat, sich mit Ende 30 ein so gutes Italienisch anzueignen, dass sie wenige Jahre danach ihre Arbeit als Übersetzerin beginnen konnte, dann besteht für mich (und mein ausbaufähiges Italienisch) auch noch Hoffnung. Dann wird mir bewusst, dass ich Zeit habe, mir Zeit lassen kann. Nicht mit allem, aber mit vielem. Dass ich, wenn meine Gesundheit es zulässt, mein ganzes Leben lang lernen und Neues tun kann. So wie mein fast 93-jähriger Opa. Der sagte letztens, er habe noch gar keine Lust zu sterben – es gäbe schließlich noch so viele Dinge, die er erleben wolle, und auf die er sich freue.

© Header Bild: Golden Girls Season 5 

5 Kommentare

  1. Svetlana

    Danke für den Text und die Podcast-Tipps! Ich find das so wichtig, die Altersgruppen mal zu erweitern, die ihre Geschichten erzählen. Gerade was Frauen* angeht. Komme selbst aus einer russischen Familie und da wurde mir mit 25 schon gesagt, dass meine Zeit abläuft. Bin jetzt 27 und ab und zu sickert bei mir immer noch das Gefühl von Zeitknappheit und Countdown durch, was natürlich völliger Quatsch ist. Ich hab irgendwo mal aufgeschnappt, dass das Älterwerden ein Privileg ist. Und das ist doch voll das schöne „Reframing“, dass jede Falte und jedes weitere Jahr ein Geschenk statt ein Punkt Abzug ist 🙂

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  2. Judith

    Danke für die Podcasttipps. Ich finde es so spannend, Lebensgeschichten von älteren Menschen zu hören… Besonders auch von denen, die auf keiner Forbes-Liste je gestanden haben und trotzdem auf ein erfülltes Leben blicken.

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  3. Mari

    Super schöner Beitrag und spannende Empfehlungen! Ich find Geschichten von Älteren total spannend und spreche häufig mit meinen Großeltern über ihr Leben und das ihrer Familien. Besonders im Moment machts mich traurig, dass älteren Menschen schnell die „Daseinsberechtigung“ abgesprochen wird (Stichwort: „warum werden Alte geimpft, die sterben doch eh bald“) und wie oft alle über einen Kamm gescherrt und per se erstmal angeblich rassistisch, umweltschädlich, sexistisch und rückständig sind, weil das so gar nicht mit den Geschichten, die ich höre und den Menschen, die ich kenne und kennengelernt habe, übereinstimmt. Zuhören hilft. Und miteinander reden. Dann merkt man nämlich, dass die Generationen vor uns gar nicht so anders sind, als wir selber. Und dass wir alle viel mehr gemeinsam haben als wir denken.

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  4. Anna

    So ein schöner Beitrag! Ich finde wir setzen uns oft viel zu sehr unter Druck und wollen alles schnell und jung machen. Dabei haben wir ja noch so viel Zeit – der Weg ist ja das Ziel. 🙂 Gerade das Beispiel mit Ann Goldstein und Italienisch ist super – bei Sprachen sagt man ja immer umso früher man es lernt, umso leichter ist es. Vielleicht ist es leichter, aber zu spät etwas Neues zu lernen ist es nie. Danke für die schöne Inspiration!

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