Es hat sich ausgeflattert, endgültig. Keine langbeinigen „Schönheiten“ mehr, die in knappen Dessous und ausgestattet mit riesigen Flügeln über den Laufsteg stolzieren: Die US-Wäschemarke Victoria’s Secret hat beschlossen, dass die Zeit für einen Imagewandel gekommen ist. Die Engel müssen gehen. Statt perfekter Models sollen in Zukunft verschiedene Frauen, die für ihre Leistung bekannt sind, für das Unternehmen werben, darunter Star-Fußballerin Megan Rapinoe, Transgender-Model Valentina Sampaio und Schauspielerin Priyanka Chopra Jonas. Als sogenanntes „VS Collective“ sollen sie zeigen, dass Victoria’s Secret nun für Diversität steht.
Das Ganze ist so fadenscheinig wie einer der Tangas, den das Unternehmen verkauft. Es liegt die Vermutung nah, dass es Victoria’s Secret weniger um „female empowerment“ geht (ganz unbescheiden will man „der weltweit führende Fürsprecher von Frauen“ werden) sondern darum, unappetitliche Ereignisse in der Vergangenheit vergessen zu lassen und das Unternehmen neu zu positionieren. So verkündete Ed Razek, damals chief marketing officer von Victoria’s Secret, 2018 in einem Interview, dass die Marke nicht vorhabe, Plus-Size- oder Transgender-Models in seine jährlichen Shows einzubeziehen. Schließlich seien diese Shows eine „Fantasie“ – eine heteronormative, männliche Fantasie, könnte man hinzufügen, in der alles, was davon in Sexualität, Geschlechtsidentität und Körper abweicht, offensichtlich keinen Platz hat.
Viele Vorwürfe
Ach ja, und dann gab es da noch das kleine Detail, dass Leslie Wexner, der Vorsitzende von Victoria’s Secret Mutterkonzern L Brands, mit dem verurteilten Sexualstraftäter Jeffrey Epstein befreundet war. Und dass Epstein diese Verbindung offenbar nutzte, um Zugang zu jungen Frauen zu bekommen. Zusammen mit anderen Problemen, die Victoria’s Secret plagten – wie die Kritik an von der Marke propagierten unrealistischen Schönheitsidealen, der Weigerung, Plus-Size-Größen anzubieten und Vorwürfe der sexuellen Belästigung – ergab das einen Haufen negativer Publicity, der darin gipfelte, dass das Unternehmen 2019 bekanntgab, die Laufsteg-Shows mit beflügelten Models und Live-Übertragung im amerikanischen Fernsehen abzuschaffen.
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Und nun also das neu erwachte Bewusstsein dafür, dass Frauen sich eventuell andere Vorbilder wünschen als gazellenartige Models, die zwar atemberaubend aussehen, deren Persönlichkeiten aber oft irgendwie austauschbar erscheinen. Die Wahrheit ist: Victoria’s Secret hatte gar keine andere Wahl. In den letzten Jahren hat sich auf dem Lingerie-Markt einiges getan, zeigen kleinere, unabhängige Labels und vor allem Rihannas Savage x Fenty, dass sich BHs und Schlüpfer auch ohne sexistisches und exklusives Marketing verkaufen lassen und vor allem: dass Konsument*innen sich ein breiteres Angebot an Formen und Größen wünschen, sowohl bei der Ware selbst, als auch bei den Menschen, die diese Ware bewerben. Neben der frechen Coolness von Fenty wirkt Victoria’s Secret oll und langweilig, wie aus einer anderen Ära.
Der Gestank der Verzweiflung
Die Neuerfindung von Victoria’s Secret ist deshalb ein kalkulierter Schritt, um mit der Konkurrenz mithalten zu können und neue Kund*innen anzusprechen. Ein Schritt, der so offensichtlich wie hohl ist. Und trotzdem: Victoria’s Secret, das darf man nicht vergessen, besitzt immer noch eine enorme Marktmacht. Dem Branchendienst WWD zufolge hatte das Unternehmen in den Vereinigten Staaten im Dezember 2020 im Bereich Damenunterwäsche einen Marktanteil von 19 Prozent. 2015 waren es noch 32 Prozent, aber trotz dieses Rückgangs macht Victoria’s Secret einen Jahresumsatz von 5 Milliarden US-Dollar, beschäftigt in seinen weltweit 1400 Läden insgesamt 32.000 Menschen. Zum Vergleich: Savage x Fenty macht einen Jahresumsatz von „nur“ 150 Millionen US-Dollar.
Dass sich ein Unternehmen mit der Marktmacht von Victoria’s Secret, dessen Waren während großer Live-Events beworben werden und die sich in den USA in jedem Einkaufszentrum finden, nun dazu gezwungen sieht, seine Marketingstrategie zu ändern, ist ein gutes Zeichen. Denn es zeigt, wie sehr sich Ansprüche und Kaufverhalten der Konsument*innen verändert haben – wie viel lauter die Stimmen derjenigen geworden sind, die auch Teil elaborierter Lingerie-Fantasien sein, die sich dort repräsentiert sehen wollen. Die von Victoria’s Secret sorgfältig inszenierte Kehrtwende stinkt nach Verzweiflung. Wichtig ist sie dennoch, weil sie zeigt, dass Diversität und Inklusivität mittlerweile zum Mindeststandard gehören, wenn es um Marketing und Verkauf von Produkten geht. Das allein reicht selbstverständlich nicht: Diversität und Inklusivität sollten mehr sein als bloße Modewörter. Ob Victoria’s Secret das verstanden hat und sein Imagewandel mehr ist als eine leere Geste, bleibt abzuwarten.