Auf die Gefahr hin, dass ihr die Buchdeckel meiner persönlichen Auslese schon tausendfach erspäht habt, zum Beispiel in diesem Internet, zeige ich sie euch heute ein weiteres Mal ganz ungeniert, denn abgesehen von all den großartigen wie Pilze aus dem Boden sprießenden Sachbüchern, sind die folgenden Romane und Essays mir die liebsten der vergangenen Monate gewesen.
Dank des phantastischen Portraits im letzten Zeitmagazin über Marieke Lucas Rijneveld aus den Niederlanden, wurde ich wieder an „Was man säht „erinnert, eines dieser Bücher, die man ab Minute eins einatmet als ginge es nie mehr ohne diese Seiten, Sätze, Protagonist:innen, die dich im Jetzt einsaugen, um dich dort, in dieser Geschichte, an diesem gänzlich anderen Ort, wieder auszuspucken, so, als seist du selbst Teil davon. Genau deshalb wagte ich es mich eine zeitlang nicht anzurühren. Zu doll gerade, dachte ich, denn Mariekes Meisterwerk ist tatsächlich keine leichte Kost. Aber, einmal gelesen, besser als jeder Film und jede Serie, sprachlich unglaublich und inhaltlich so stark, dass der Booker Prize beinahe untertrieben wirkt.
Ach, und Daniel Schreibers „Allein“ ist wirklich nicht minder gut, nein, sogar brilliant. Es mag seltsam klingen, aber während des Lesens hatte ich zuweilen das Gefühl, wir seien dicke Freunde. Dabei kennen wir uns kein bisschen. „Allein“ handelt tatsächlich vom Alleinsein, auf viele, viele Arten und Weisen, von (unerfüllter) Liebe, Freundschaft und ja, auch von der Pandemie. Und ganz gleich, ob wir uns mit dem Leben und Denken Schreibers identifizieren können oder nicht, am Ende sind wir klüger, empathischer, und: das Gegenteil von Allein (mit all dem, was wir zuweilen fühlen).
„Kurz vor Weihnachten bemerkt die zehnjährige Jas, dass der Vater ihr Kaninchen mästet. Sie ist sich sicher, dass es dem Weihnachtsessen zum Opfer fallen wird. Das darf nicht passieren. Also betet Jas zu Gott, er möge ihren älteren Bruder anstelle des Kaninchens nehmen. Am selben Tag bricht ihr Bruder beim Schlittschuhlaufen ins Eis ein und ertrinkt. Die Familie weiß: Das war eine Strafe Gottes, und alle Familienmitglieder glauben, selbst schuld an der Tragödie zu sein. Jas flieht mit ihrem Bruder Obbe und ihrer Schwester Hanna in das Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsensein, in eine Welt voll okkulter Spiele und eigener Gesetze, in der die Geschwister immer mehr den eigenen Sehnsüchten und Vorstellungswelten auf die Spur kommen.“
Marieke Lucas Rijneveld – Was man sät
Übersetzt von Helga van Beuningen
Suhrkamp Verlag, 2019
„Zu keiner Zeit haben so viele Menschen allein gelebt, und nie war elementarer zu spüren, wie brutal das selbstbestimmte Leben in Einsamkeit umschlagen kann. Aber kann man überhaupt glücklich sein allein? Und warum wird in einer Gesellschaft von Individualisten das Alleinleben als schambehaftetes Scheitern wahrgenommen?
Im Rückgriff auf eigene Erfahrungen, philosophische und soziologische Ideen ergründet Daniel Schreiber das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Rückzug und Freiheit und dem nach Nähe, Liebe und Gemeinschaft. Dabei leuchtet er aus, welche Rolle Freundschaften in diesem Lebensmodell spielen: Können sie eine Antwort auf den Sinnverlust in einer krisenhaften Welt sein? Ein zutiefst erhellendes Buch über die Frage, wie wir leben wollen.“
Daniel Schreiber – Allein
Hanser Berlin, 2021
Die dreiundzwanzigjährige Edie lebt in Bushwick, Brooklyn, und hält sich nach ihrem abgebrochenen Kunststudium finanziell mit einem Assistenzjob in einem Verlag und emotional mit wechselnden Liebschaften über Wasser. Dann beginnt sie eine Affäre mit Eric, einem weißen Mann, der in einer offenen Ehe lebt und fast doppelt so alt ist wie sie. Während sich Edie mit Erics Ehefrau und vor allem mit der Adoptivtochter des Paares, Akila, einem Schwarzen Mädchen, anfreundet, verschieben sich alle Perspektiven. Edie scheint die einzige andere Schwarze Person zu sein, die Akila kennt, und die Beziehung zwischen den beiden wird bald wichtiger als alles andere. Auf einmal muss Edie sich mit ihrer eigenen Einsamkeit und dem schon immer in ihrem Leben gewesenen Rassismus und Sexismus neu auseinandersetzen.
Raven Leilani – Hitze
Übersetzt von Sophie Zeitz
Atlantik, 2021
In zwölf Essays schreibt Sophia Hembeck über das Erwachsenwerden: „Most writers produce their memoirs a lot later in life. After they have written their fiction, their stories, they sail into their own life to examine. So in many ways I’m doing this backwards. It’s not intentional. It just sort of happened. Like a hole in a pipe it just started leaking. At first a soft dribble that would find its way into my fiction. Thinking I had it under control, not realising after a while that the bucket I had put under it was overflowing and flooding everything overnight. This is all that was washed ashore. Those days. These are the things I have noticed.”
„Things I Have Noticed – Essays on leaving / searching / finding” is a poetic memoir written by Sophia Hembeck about the process of finding ones own voice.
„Was sollen diese ewigen Gedankenschlaufen? Was haben schlaflose Nächte auf Instagram zu bedeuten? Und wie kann Jean-Paul Sartre bei Panikattacken helfen? Persönlich und präzise schreibt Nina Kunz – Schweizer Kolumnistin des Jahres 2020 – über das Unbehagen der Gegenwart und geht der Frage nach, warum sich ihr Leben, trotz aller Privilegien, oft so beklemmend anfühlt. Ein Buch über Leistungsdruck, Workism, Weltschmerz, Tattoos, glühende Smartphones, schmelzende Polkappen und das Patriarchat.“
Nina Kunz – Ich denk, ich denk zu viel
Kein & Aber, 2021